Zu viel Harmonie in Hessen – trotz NSU 2.0?: Grünen-Politikerin will Aufklärung rechter Netzwerke zur Koalitionsfrage machen
Die Affäre um rechte Drohmails belastet Schwarz-Grün in Hessen. Eine Bundestagsabgeordnete fordert nun von ihren Parteifreunden einen radikalen Schnitt.
Canan Bayram verliert beim Thema NSU 2.0 allmählich die Geduld mit ihren hessischen Parteifreunden. „Es kann nicht sein, dass Grüne in der Regierung Nazis oder rechte Polizisten decken müssen, durch die so viele Menschen in ganz Deutschland mit dem Tode bedroht werden“, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete aus Kreuzberg.
Von den Grünen in Hessen erwarte sie einen radikalen Schnitt. „Der Landesverband muss Fristen setzen und die konsequente Aufklärung und Bekämpfung der rechten Netzwerke in der Polizei zur Koalitionsfrage machen“, fordert Bayram.
In den letzten Wochen wurden zahlreiche Drohschreiben publik
Etwa zwei Jahre ist es her, dass die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz, eine der Nebenklägerinnen im NSU-Prozess, die ersten Drohschreiben mit dem Absender NSU 2.0 erhielt. In den letzten Wochen gingen erneut zahlreiche Mails an Personen des öffentlichen Lebens, darunter auch viele Politikerinnen von Linken und Grünen.
Zum Skandal für die hessische Polizei wurde, dass die nicht-öffentlichen Daten einiger Betroffenen von hessischen Polizeicomputern abgefragt wurden. Am Montag kam es zu zwei vorläufigen Festnahmen. Ein ehemaliger bayerischer Polizist und seine Ehefrau stehen unter Tatverdacht.
Für die Grünen, die in Hessen seit 2014 mit der CDU regieren, wird die Affäre zur Belastungsprobe. Mit Kritik an Innenminister Peter Beuth (CDU) hielten sie sich bisher zurück. Die Regierungsriege um den stellvertretenden Ministerpräsidenten Tarek Al-Wazir vertritt die Linie, dass Konflikte mit dem Koalitionspartner intern ausgetragen werden.
Einen Teil des Erfolgs bei der letzten Landtagswahl im Oktober 2018, bei der die Grünen knapp 20 Prozent erreichten, führten sie darauf zurück, dass sie Gegenmodell zur zerstrittenen großen Koalition im Bund waren. Vor wenigen Tagen forderte der hessische Grünen-Fraktionschef Mathias Wagner erstmals einen „Neuanfang“ bei den Sicherheitsbehörden.
"Das grenzt an Selbstaufgabe"
Doch nach Ansicht von Bayram grenzt das, was die Grünen in der Landesregierung machen, an Selbstaufgabe. „Da braucht es eigentlich einen stellvertretenden Ministerpräsidenten, der eine Linie zieht, wenn die Schmerzgrenze überschritten ist.“
Sie habe „Zweifel“, dass die Koalition das Ruder noch herumreißen könne. Die CDU habe „kein besonderes Interesse“ an Aufklärung, was auch daran liege, dass Ministerpräsident Volker Bouffier als Innenminister früher selbst oberster Dienstherr der Polizei gewesen sei.
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Zu den Politikerinnen, die zuletzt Drohmails erhielten, gehört Renate Künast. Seit Jahren fordert die Grünen-Bundestagsabgeordnete einen engagierteren Kampf gegen Rechtsextremismus, sie erstattet regelmäßig Anzeige und zieht auch vor Gericht, wenn sie im Netz beleidigt und bedroht wird.
Sie werde angesichts des staatlichen Versagens „langsam sauer“, sagt sie. „Trotz zahlreicher Mahnungen haben viele es nicht ernst genug genommen, dass Rechtsextreme sich seit vielen Jahren in diesem Land neu organisieren und vernetzen.“
Auch Künast hätte nichts dagegen, wenn ihre Parteifreunde in Hessen „die Stimme etwas lauter erheben“ würden. Das Wichtigste sei aber, „dass endlich etwas passiert“, sagt sie. Die letzten Wochen und Monate hätten gezeigt, dass die interne Aufklärung bei der Polizei nicht funktioniere, auch wegen der dort vorhandenen „Wagenburg-Mentalität“. Deshalb sei es richtig, dass nun erst mal ein Sonderermittler tätig wird.
Ihre Fraktionskollegin Bayram hingegen findet, das gute Wahlergebnis der Grünen bei der letzten Landtagswahl gehe auch mit einer größeren Verantwortung einher. „Wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus geht, müssen die Grünen stehen“, fordert sie. Aus dem Arbeitskreis Innen- und Rechtspolitik der Grünen-Bundestagsfraktion habe es Bemühungen gegeben, mit den hessischen Parteifreunden darüber zu diskutieren, allerdings bisher ohne Erfolg.
Die hessische Abgeordnete Eva Goldbach weist den Vorwurf zurück, die Grünen in Hessen seien untätig. Auch sie finde es „schwer nachvollziehbar“, dass die Staatsanwaltschaft seit zwei Jahren ermittele und immer noch keine Ergebnisse vorweisen könne. „Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, dass wir damit nicht zufrieden sind“, sagt die innenpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion.
Dass es missbräuchliche Datenabfragen von Polizeicomputern gegeben habe, die immer noch nicht aufgeklärt seien, erschüttere das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden. Es reiche deshalb auch nicht, den Landespolizeipräsidenten auszuwechseln. „Wir brauchen einen Neustart“, fordert Goldbach.
Unabhängige Experten sollen Abläufe in der Polizei untersuchen
Zu diesem Neustart gehört für sie, dass eine unabhängig Expertenkommission eingesetzt werden soll, um Strukturen und Abläufe in der Polizei zu untersuchen. Bei Datenabfragen soll künftig nachvollziehbar sein, wer diese getätigt hat. Nach dem Sommer soll außerdem ein unabhängiger Polizeibeauftragter eingesetzt werden.
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Auch ihre Berliner Parteikollegin Künast hält es für unerlässlich, dass künftig bundesweit in sämtlichen Polizeibehörden nachvollziehbar sein müsse, wer private Daten von Bürgern abgefragt habe. Außerdem müsse klarer geregelt werden, wer solche Abfragen überhaupt tätigen dürfe.
Polizei braucht eine "Meldekultur"
Zum anderen müssten sich die Managementsysteme komplett ändern, fordert die Grünen-Politikerin: "Wir brauchen Strukturen und Abläufe, die innerhalb der Polizei schwerwiegende Fehler verhindern und nicht dazu führen, dass Fehler vertuscht werden, sondern eine Meldekultur entsteht", sagt Künast. Umgekehrt müsse auch ein Innenminister quasi wie in einem Schnellwarnsystem klar festlegen, in welchen Fällen er zu informieren sei und dann natürlich selbst dran bleiben.
Die hessische Innenpolitikerin Goldbach erhofft sich auch von den laufenden Ermittlungen bald neue Erkenntnisse. Derzeit fänden bei der Polizei in Wiesbaden Befragungen statt, dort wurden zuletzt auf Polizeirechnern Datenabfragen getätigt. „Ich erwarte, dass uns im Innenausschuss bald Ergebnisse vorgelegt werden“, sagt sie.
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Goldbach verweist auf die spezielle Arbeitsweise der hessischen Koalition, in der kritische Auseinandersetzungen intern geführt würden. „In der Innenpolitik haben wir ständig Diskussionen, dort vertreten CDU und Grüne unterschiedliche Pole“, sagt Goldbach. Es müssten immer wieder Kompromisse gefunden werden, die für beide Koalitionspartner tragbar seien. Es sei aber „absurd zu behaupten, dass wir kritiklos schwarze Innenpolitik mitmachen.“
Bundesgeschäftsführer Kellner verteidigt die Hessen-Grünen
Auch Bundesgeschäftsführer Michael Kellner verteidigt das Vorgehen der hessischen Grünen. „Die Landesgrünen haben in der Innenpolitik einiges erreicht. Sie haben in den Koalitionsverhandlungen die Einsetzung eines unabhängigen Polizeibeauftragten durchgesetzt und gegen heftige Widerstände aus Reihen des Koalitionspartners dafür gesorgt, dass es in Hessen eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten gibt“, sagt Kellner.
Zugleich fordert er die Landesregierung auf, die Strukturen, die hinter den mit NSU 2.0 unterzeichneten Drohbotschaften stecken, „mit Nachdruck und ohne falsche Rücksichtnahme" aufzudecken. „Da müssen die Grünen den Finger weiter in die Wunde legen“, fordert er.
Doch der Kreuzberger Bundestagsabgeordneten Bayram reicht das nicht. Sie verweist darauf, dass es immer wieder Anlass für Ärger mit den hessischen Parteikollegen gegeben habe: seien es die langen Sperrfristen der NSU-Akten, welche die Grünen mitgetragen hätten, „um den Ministerpräsidenten zu schonen“, oder die Tatsache, dass vor Kurzem Gelder für Ehrenamtliche nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau gestoppt worden seien.
Für sie zeigt der NSU 2.0-Skandal, dass schwarz-grüne Koalitionen in der Innenpolitik zum Scheitern verurteilt seien. „Die Widersprüche in den Positionen sind zu krass, sei es bei Antirassismus, Migration oder sexueller Vielfalt.“ Die Haltung, die Grünen kümmerten sich in einer solchen Koalition um Öko, der Rest werde schon irgendwie klappen, funktioniere eben nicht, sagt Bayram: „Man kann der CDU die Innenpolitik nicht überlassen.“