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Protest vor dem Wiesbadener Landtag während der Sitzung zu den Drohmails von NSU 2.0
© Arne Dedert/dpa

Daimagüler zu NSU 2.0: "Da sind Putschisten in spe am Werk"

Mehmet Daimagüler war Opferanwalt im NSU-Prozess und erhält selbst Drohbriefe von "NSU 2.0. Er sieht die Demokratie in Gefahr und den Staat nicht gewappnet.

Die Lage nach Auskunft des hessischen Innenministers Beuth diese Woche im Landtag: 69 Drohschreiben hat „NSU 2.0“ bisher verschickt, es gibt 27 Betroffene, drei der Schreiben nutzten Informationen aus hessischen Polizeicomputern.  Ist der Stand des Innenministers auch Ihrer?

Es ist der Stand, der dem Innenminister bekannt ist. Er könnte ein ganz anderer sein. Von den hessischen Verantwortlichen kann man niemanden mehr ernst nehmen. Der Innenminister hat offensichtlich keinen Überblick. In anderen Ländern hätte mit dieser Bestandsaufnahme schon die ganze Landesregierung abtreten müssen, angefangen beim Ministerpräsidenten. Der Fisch stinkt vom Kopfe her.

Ministerpräsident Volker Bouffier war selbst zuvor Innenminister.

Und hat sich in diesem Amt geweigert, die Erkenntnisse um den NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel zu teilen, ließ Akten wegsperren – mit Zustimmung seines Grünen Koalitionspartners Tarik al-Wazir übrigens. Und das im Falle eines Mordes, dessen Zeuge ein Verfassungsschutzmann wurde. Andreas Temme saß zu diesem Zeitpunkt im Internetcafé des Opfers. Wir stehen vor einer hessischen Bankrotterklärung. Auch auf Ebene der Polizei müsste tabula rasa gemacht werden. Es braucht einen Sondermittler von außerhalb des Polizeiapparats. Die internen Mittel reichen offenbar nicht zur Aufklärung.

Die Drohungen gegen die Frankfurter Anwältin Seda Basar-Yildiz  vor zwei Jahren hatten bis heute keine sichtbaren Konsequenzen. Im Fall der Kabarettistin Idil Baydar sagte der Landesinnenminister ebenfalls diese Woche, die Abfrage im Polizeicomputer stamme von Oktober, ein erster Beamter sei im Juni vernommen worden – wegen der Probleme mit dem Corona-Virus.

Das ist doch lächerlich! Ich habe mehrere Anzeigen deswegen erstattet, alle Verfahren wurden eingestellt. Man fragt sich: Worauf warten sie in Polizei und Justiz eigentlich? Und was wissen wir alles nicht?

Mehmet Daimagüler
Mehmet Daimagüler
© Rolf Vennenbernd/dpa

Was vermuten Sie?

Wir wissen, nicht nur in der Polizei, nicht nur in Hessen, zum Beispiel nicht, wie wir mit extremistischen Angehörigen von Sicherheitsbehörden umgehen. Auch da ist es an der Zeit, organisatorisch Lösungen zu finden – etwa durch unabhängige Ermittlung von außen. Aber die haben wir nicht. Wir haben aber Meldungen über Bundeswehrangehörige, die Munition und Waffen stehlen – ich vermute, in höherer Zahl als bekannt. Wozu horten Bundeswehrsoldaten Waffen? Für welchen Tag? Da sind Putschisten in spe am Werk. Und tue niemand so, als sei das jenseits des Vorstellbaren. Wir haben in Deutschland landauf landab Organe im Staat, die gegen diesen Staat arbeiten. Es geht nicht nur darum, Drohbriefe zu zählen. Es geht um die Frage, ob dieser Staat gewappnet ist gegen die Gefahr von innen?

Ist er?

Im Moment sieht es nicht so aus.

Sie waren bereits Opferanwalt im Münchner NSU-Prozess, jetzt werden sie von der selbsternannten NSU 2.0 bedroht. Steht das für Sie im Zusammenhang?

Wir haben bei NSU einen Staat erlebt, der nicht in den Abgrund blicken wollte, weil er Angst hatte, der Abgrund könnte zurückblicken. In meinem Schlussplädoyer in München habe ich von der Verharmlosung durch staatliche Stellen gesprochen. Das Ensemble von V-Leuten, Verfassungsschutz, rassistischer Polizeiarbeit: Hätte es das nicht gegeben wäre schon der erste Mord aufgeklärt worden. Aber das wurde vermieden. Als ich sagte, nach dem NSU sei vor dem NSU, hat mich die Bundesanwaltschaft ausgelacht. Genau da sind wir jetzt.

Wie wirken die Drohungen auf  Sie persönlich?

Ich musste mich seit vielen Jahren daran gewöhnen. Natürlich bin ich bedroht. Wie jede und jeder, die in der Öffentlichkeit stehen, ob als Kommunalpolitiker, Journalistinnen oder Anwälte. Ich selbst habe keine Angst. Anders als die Kollegin Basar-Yildiz habe ich aber auch das Privileg, keine Familie zu haben, mir kann man nicht androhen, man werde mein Kind abschlachten. Verheerend für die Demokratie ist aber, dass engagierte Menschen bedroht und vom Staat allein gelassen werden. An so etwas geht über kurz oder lang eine Demokratie kaputt. Ich selbst habe Mandanten, die in der Kommunalpolitik sind, die sich nach der Arbeit noch im Ehrenamt engagieren, mit ihren Familien bedroht werden und allein bleiben. An der Basis, in den Kommunen, wird über die Demokratie entschieden.

Es sind inzwischen so viele bekannt, die von NSU 2.0 bedroht werden. Könnten unter den Drohbriefschreibern nicht auch Trittbrettfahrer sein?

Das ist natürlich im Bereich des Möglichen. Aber wir wissen auch, dass Leute dabei sind, die nicht nur verbal handeln, sondern zur Waffe greifen. Eine weitere Frage ist, wie die Online-Giganten mit diesem Hass umgehen. Ich meine, sie tun immer noch zu wenig. Gäbe es die Möglichkeit, per Verbandsklage gegen sie vorzugehen, träfe sie das finanziell und es würde sich etwas ändern.

Sie sprachen von Ihren Anzeigen. Was folgte darauf?

Die Polizei war bei mir, aber dann habe ich nie wieder etwas gehört. Man erfährt nicht einmal, ob ein Verfahren eingestellt wurde, und wenn, warum. Schließlich denkt man sich: Warum Stunden mit dem Ausfüllen von Formularen verschwenden, wenn doch nichts dabei rumkommt? Etlichen meiner Mandaten geht es genauso, sie sehen sich von der Polizei abgewimmelt. Mit dem Ergebnis, dass der Bedroher schon einen Teil seines Ziels erreicht hat, wenn ich mich mit Formschreiben beschäftigen muss, die in den Behörden niemanden interessieren. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass man überlegt, wie man sich selbst schützen kann.

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