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Cool - oder verantwortungslos? Britanniens Premier Boris Johnson verzichtet auf drastische Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus.
© Reuters/Richard Pohle

Abwarten und Tee trinken: Großbritanniens eigenwilliger Weg in der Coronakrise

Wochenlang hat er geschwiegen. Jetzt rät Premier Johnson von Bar-Besuchen ab. Drastischere Maßnahmen? Fehlanzeige.

Großbritannien reagiert anders als andere europäische Staaten auf das Coronavirus. Zwar steigt auch hier die Zahl der Infizierten stetig an. Doch Premierminister Johnson wehrt sich gegen drastische Maßnahmen und pocht auf Gelassenheit.

Bis jetzt.

Nun fordert Johnson seine Mitbürger auf, Abstand zu halten - und rät von Pub-Besuchen ab. Man solle unnötige soziale Kontakte und Reisen vermeiden. Die Menschen sollten „Kneipen, Clubs, Theater und andere solche sozialen Orte meiden“, sagte der Regierungschef am Montagabend nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats in London.

Außerdem empfahl er das Arbeiten von zu Hause aus, falls das machbar sei. Es handele sich um eine „nachdrückliche Empfehlung“.

Wer Husten oder Fieber habe, müsse 14 Tage zu Hause bleiben. Dies gelte auch für deren Mitbewohner. Menschen, die sich in einem „sehr schwachen Gesundheitszustand“ befänden, sollten zwölf Wochen lang weitgehend vor sozialen Kontakten geschützt werden. Massenveranstaltungen und überfüllte Plätze sollten gemieden werden, sagte Johnson weiter. Konkrete Vorgaben hierzu nannte er aber nicht.

Die Theorie: Je mehr sich infizieren und so immun werden, desto besser

Der Premier zeigt sich britisch cool. Vergangene Woche warnte er zwar, so zitiert ihn das ZDF: „Sehr viele mehr werden sich von geliebten Menschen vor der Zeit verabschieden müssen.“ Doch im Gegensatz zu so ziemlich allen anderen setzt man in London auf Berechnungen, wonach es besser sei, wenn sich eine große Anzahl der gesunden Bevölkerung mit dem Virus infiziert und so Immunität erlangt.

Kritiker werfen Johnson vor, mit zu laschen Maßnahmen auf das grassierende Coronavirus zu reagieren. Die Regierung will dagegen mit den vergleichsweise kleinen Schritten verhindern, dass der Ausbruch zu stark unterdrückt wird und im Herbst mit voller Wucht zurückkehrt.

Eltern werden selbst aktiv und schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule

Anders als andere europäische Länder wie zum Beispiel Frankreichwill der Premierminister auch jetzt keine drastischeren Maßnahmen ergreifen. Schulschließungen oder Versammlungsverbote verkündet er keine. Im gegenwärtigen Zustand sei dies „nicht notwendig“.

Am Montag schickten offenbar viele Eltern ihre Kinder nicht zur Schule, wie mehrere von Reuters befragte Lehrer berichteten. Auf Twitter hatten Hashtags wie #Covid19Walkout Konjunktur, die zum Boykott des Schulbesuchs aufriefen.

Eine Petition für Schulschließungen auf der Internetseite des Parlamentes erhielt fast 600.000 Unterschriften. „Ich glaube, die Regierung handelt unverantwortlich und riskiert zum Schutz der Wirtschaft Leben“, sagte Suzana Ilieva aus Doncaster in Nordengland. „Ich habe mit meinem Mann meine eigene Entscheidung getroffen.“

Die Regierung verteidigt ihr Vorgehen

Ein Sprecher Johnsons verteidigte dagegen die Entscheidung. Die Wissenschaft empfehle derzeit nicht, die Schulen zu schließen. Einige sind bereits dennoch zu, da es Verdachtsfälle bei Lehrern oder Schülern gab. Das Bildungsministerium wollte jedoch nicht Auskunft darüber geben, um wie viele es sich handelt.

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Bis Montagmorgen waren in Großbritannien mehr als 1500 Infizierte registriert, 36 Menschen sind gestorben. Alle Landesteile sind von der Pandemie betroffen. Die meisten Infektionen gibt es in England. Das Land führt jedoch keine systematischen Tests durch. Daher wird geschätzt, dass die tatsächliche Zahl der Fälle viel höher ist. In den kommenden Wochen erwarten Experten einen gewaltigen Anstieg.

Der britische Gesundheitsdienst NHS gilt schon jetzt als völlig überlastet und marode. Es mangelt an Personal, Betten und medizinischer Ausstattung. So stehen beispielsweise nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung. „Die nächsten Wochen und Monate werden außerordentlich schwer für den NHS in allen vier Landesteilen“, sagte Regierungsberater Professor Chris Whitty.

Demonstranten in weißen Schutzanzügen und mit Schutzmasken hatten zuvor von Johnson gefordert, im Kampf gegen die Pandemie alle Menschen zu unterstützen und nicht der Wirtschaft den Vorrang einzuräumen. Man müsse sich vor allem um die Schwächsten kümmern.

WHO hält britisches Nichtstun für gefährlich

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Zweifel an dem britischen Sonderweg geäußert. Nichtstun sei gefährlich, auch weil es gar nicht sicher sei, inwieweit vormals Kranke später immun gegen das Virus sind.

Der Generaldirektor der WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus machte klar, es sei wichtig zu wissen, wer und wie viele Menschen infiziert seien: „Testet, testet, testet“, so rief er es den Regierungen in aller Welt zu.

Doch die Briten wollen ihr Vorgehen nicht ändern und halten die 44.000 durchgeführten Tests für ausreichend. Südkorea mit einer ähnlich großen Bevölkerung hat allerdings 250.000 Tests durchgeführt und die Zahl der Neuinfektionen reduziert.

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