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Alles wie immer. Vor dem Buckingham Palace tummeln sich am Sonntag die Touristen.
© Tolga Akmen/AFP

Mit Herdenimmunität gegen das Coronavirus?: Johnson verzichtet auf die harte Tour

Großbritanniens Premier setzte zunächst auf business as usual. Doch er muss handeln, die Zahlen der Infizierten steigen immer schneller.

Unter dem Druck rasch wachsender Krankheitszahlen und den energischen Maßnahmen von Nachbarländern verändert die britische Regierung von Premierminister Boris Johnson ihre bisher zurückhaltende Vorgehensweise gegen die Corona-Epidemie.

Am Wochenende kündigte Gesundheitsminister Matthew Hancock eine Vielzahl neuer Maßnahmen an; dazu gehört der Ankauf neuer Beatmungsmaschinen sowie die Schließung von Theatern, Kinos und Konzerthallen. Einzelheiten sollen am Dienstag bekannt gegeben werden. Man müsse den richtigen Zeitpunkt abwarten, teilte Hancock mit.

Großbritannien verzeichnete bis Samstagabend 1140 Fälle von Corona-Infizierten. Die Dunkelziffer liegt schon deshalb viel höher, weil kaum jemand getestet wird, nicht einmal jene mit Symptomen. 21 Menschen sind bislang an den Folgen des Virus gestorben.

Dennoch herrscht auf der Insel weitgehend business as usual: Schulen und Universitäten machen ebenso weiter wie Museen und Galerien. „Unsere Häuser sind wie gewohnt geöffnet“, heißt es etwa auf der Website der Tate-Museen. Auch Theater wird unbeirrt gespielt; für Tom Stoppards gefeiertes neues Stück „Leopoldstadt“, eigentlich seit Wochen ausverkauft, gibt es in Londons Wyndham Theatre nun wieder Karten.

Die öffentlichen Verkehrsmittel verkehren wie gewohnt, von inländischen Reisebeschränkungen ist keine Rede. Der eher für Frohsinn als für ernsthafte Regierungsarbeit bekannte Premierminister hat sich in den vergangenen Wochen stets an der Seite des Wissenschaftsberaters der Regierung, Patrick Vallance, und des obersten Gesundheitsbeamten Chris Whitty gezeigt.

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am Donnerstag erläuterte das Trio das bisherige Vorgehen der Regierung. Es zielt auf eine Verlangsamung der Epidemie ab, um das ohnehin überlastete Gesundheitssystem NHS zu entlasten. Ein Verbot von Großveranstaltungen wie Fußballspiele oder Popkonzerte sei dafür einstweilen nicht notwendig, lautete das Verdikt der Regierungsberater.

Vielmehr müsse das Land möglichst rasch eine Herdenimmunität entwickeln. Allerdings sprach Johnson auch offen davon, es würden noch viele Familien „nahe Verwandte vor der Zeit verlieren“.

Das Gerede von der Herdenimmunität zog rasch im In- wie Ausland Kritik auf sich. Man könne gern über Theorien sprechen, teilte eine Sprecherin der Weltgesundheitsorganisation WHO mit. „Aber in der derzeitigen Lage ist Handeln gefragt.“ Von einem „bunten Durcheinander ohne jede Logik“ sprach der frühere Spitzenbeamte im Gesundheitswesen John Ashton. „In dieser Krise müssen unsere Regierungen zusammenarbeiten“ mahnte Alt-Premier Gordon Brown, in dessen Amtszeit die koordinierte Antwort auf die globale Finanzkrise nötig war.

Spätestens gegen Ende der Woche sollen Versammlungen, Theateraufführungen, Konzerte

Zunächst hielt die Regierung an ihrem Kurs fest. Der Premierminister habe der Kanzlerin Angela Merkel telefonisch die „wissenschaftsbasierte Vorgehensweise“ seines Landes erläutert, verlautete noch am Freitagnachmittag aus der Downing Street – ganz so, als vertraue der Rest Europas auf Voodoo.

Dabei hatte der Backlash in der eigenen Bevölkerung und bei betroffenen Branchen längst begonnen, nicht zuletzt als Reaktion auf die deutlich energischeren Maßnahmen der Nachbarländer. So verfügte Irlands Premier Leo Varadkar eine Reihe von Maßnahmen, wie sie mittlerweile auch auf dem Kontinent üblich sind: Schließung von Schulen und Universitäten, Verbot von Zusammenkünften von mehr als 100 Menschen. In der Hauptstadt Dublin sind sämtliche Kinderspielplätze gesperrt.

Der englische Fußballverband setzte die Saison der Premier League sowie der niedrigeren Ligen aus, vorläufig bis 4. April; ernsthaft rechnet aber niemand damit, dass der Spielbetrieb vor Ostern wieder aufgenommen wird.

Prompt vollzog die Regierung eine Kehrtwende. Am Wochenende waren die Zeitungen voller Schlagzeilen über nun doch unmittelbar bevorstehende Maßnahmen, die der Situation in vielen Ländern des Kontinents sowie auf der Nachbarinsel Irland gleichen. So sollen spätestens gegen Ende der Woche Versammlungen, Theateraufführungen, Konzerte und ähnliche Events verboten werden.

Ältere Menschen über 70 Jahren sowie Vorerkrankte sollten demnächst eine monatelange Eigenisolation antreten, sagt nun Minister Hancock. Der genaue Zeitpunkt blieb jedoch unklar, was die Labour-Opposition auf den Plan rief. Hancock tue ja erkennbar sein Bestes, höhnte Lisa Nandy, eine der drei Bewerberinnen um den Parteivorsitz: „Aber selbst er wird einräumen, dass die letzten 48 Stunden chaotisch verlaufen sind.“

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