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"Der Ort Moria fordert, das Camp Moria muss entfernt werden!" steht auf einem der Schilder, das Einheimische auf der Insel Lesbos im Mittelmeer bei der Demo am Hafen hochhielten.
© Aris Messinis / AFP
Update

Auf allen Inseln nahe der Türkei: Griechen protestieren mit Generalstreik gegen Flüchtlinge und Regierung

Mädchen ertrinken, immer mehr Migranten schlafen in der Kälte: Griechen in der östlichen Ägäis streiken. „Wir wollen unsere Inseln zurück“, fordern sie.

Sie wollen helfen, können aber einfach nicht mehr: Mit einem Generalstreik haben die Menschen auf den griechischen Mittelmeer-Inseln Lesbos, Samos und Chios und allen anderen Inseln in der Ostägäis am Mittwoch gegen die überfüllten Flüchtlingslager, gegen die Regierung und gegen die teilweise unerträglichen Lebensbedingungen protestiert. Geschäfte blieben dicht, Behörden geschlossen. „Wir wollen unsere Inseln zurück, wir wollen unser Leben zurück“, lautete der Slogan der Protestaktion. Die Demonstranten fordern die sofortige Ausweisung der Tausenden von Asylbewerbern auf den Inseln. Im öffentlichen Dienst wurde die Arbeit niedergelegt, es gab Proteste auf der Straße.

210.000 Griechen – und 42.000 Flüchtlinge auf Mittelmeerinseln

Im und um das größte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos herum hausen schon mehr als 19.000 Migranten, die Einrichtung hat Kapazitäten für 2840 Menschen. Neben den rund 210.000 Bewohnern der Ostägäisinseln leben dort aktuell mehr als 42.000 Flüchtlinge und Migranten. Schlafplätze, Toiletten und Duschen gibt es aber nur für 6200 Menschen.

Hier ist Griechenland, unser Griechenland. Eine große Nationalflagge hängt demonstrativ am Stadttheater von Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos - auf allen Ägäisinseln nahe der Türkei traten die Menschen in einen Generalstreik.
Hier ist Griechenland, unser Griechenland. Eine große Nationalflagge hängt demonstrativ am Stadttheater von Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos - auf allen Ägäisinseln nahe der Türkei traten die Menschen in einen Generalstreik.
© Aris Messinis/AFP

Die Bewohner der Ostägäisinseln beklagen etwa, dass Krankenhäuser völlig überfüllt sind, weil Migrantenfamilien mit meist vielen Kindern auch Schlange stehen. An den völlig überfüllten Lagern stapelt sich der Müll, es stinkt, Ratten laufen herum. "Unsere Kinder sehen das Elend jeden Tag. Wir haben Angst, dass sich Krankheiten entwickeln", sagte eine Mutter.

"Wir fühlen uns im Stich gelassen"

"Unsere Infrastruktur gibt das einfach nicht her“, sagt die Frau, die protestiert. "Die griechische Bevölkerung fühlt sich im Stich gelassen", sagte eine Hotelbesitzerin im Nordosten von Lesbos dem Tagesspiegel am Telefon. In Skala Sikamineas halfen die Menschen den Neuankommenden seit Jahren, auch Berliner waren im humanitären Einsatz auf See, doch es gehe so nicht weiter. Fischer hatten schon Leichen am Haken, Ehrenamtler setzten Grabsteine im Gedenken.

Spiel am Müllberg. Ein Junge rollert an Müllsäcken im Flüchtlingslager Moria vorbei. Die Lager auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros sind völlig überfüllt und die Atmosphäre ist entsprechend verzweifelt und aufgeheizt.
Spiel am Müllberg. Ein Junge rollert an Müllsäcken im Flüchtlingslager Moria vorbei. Die Lager auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros sind völlig überfüllt und die Atmosphäre ist entsprechend verzweifelt und aufgeheizt.
© Angelos Tzortzinis/dpa

Anders als in den Jahren 2015 und 2016 stellen die Syrer unter den neu Angekommenen auf den Inseln heute nicht mehr die größte Gruppe. 40 Prozent der Flüchtlinge und Migranten, die 2019 über das Meer nach Griechenland kamen, stammen aus Afghanistan, 27 Prozent aus Syrien. Zudem sind es Menschen aus unzähligen anderen Ländern der Welt, die meisten wollen nach Deutschland. Dort leben oft schon Verwandte, dort gibt es die bekanntlich umfassendsten Sozialleistungen in der EU, Frieden und Freiheit. Abschiebungen zurück, auch wenn kein Asyl gewährt wird, sind eine Seltenheit.

EU-Türkei-Abkommen greift in der Realität kaum

Etwa 40 Prozent aller Migranten sind Kinder. Mehrere Tausend laufen als minderjährige unbegleitete Geflüchtete kilometerweit mit Schleppern durch den "Dschungel", werden in Lastwagen verfrachtet. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren werden oftmals von den Eltern für den Familiennachzug vorgeschickt - sie erleiden dann auf der Flucht, haltlos und ohne einen Erwachsenen als Sicherheit, oft Traumata, es gibt Kinderprostitution, Gewalt, Missbrauch, schlimme Lebensumstände ohne Perspektive, wie Hilfsorganisationen beklagen. Viele Jugendliche schildern der Familie etwa in Afghanistan das Leid nicht, wollen sie die Eltern doch nicht beunruhigen.

Die EU-Türkei-Vereinbarung vom März 2016 gilt zwar immer noch. Sie funktioniert aber nicht gut. Die Asylverfahren in Griechenland dauern zu lange, es dauert beispielsweise auf Lesbos Jahre, bis überhaupt das Asylverfahren theoretisch beginnen könnte.

Merkel trifft am Freitag Erdogan

Von der türkischen Küste legen seit einigen Monaten wieder deutlich mehr Boote mit Migranten in Richtung griechische Inseln ab. Zuletzt ertranken auch mehrere Kinder, weil die Schlauchboote meist völlig überfüllt sind. Diese Umstände könnten auch bei dem Gespräch zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an diesem Freitag in Istanbul zur Sprache kommen.

Behelfsbehausung im "Camp" Moria. Es ist kalt, nass, es gibt nicht genügend Toiletten, Duschen, Essen, keine Schule, keine Sicherheit, kein Asylverfahren, keine Zukunft. Viele Migranten versuchen, illegal nach Nordeuropa, Deutschland, zu kommen. Die Lage ist für Flüchtlinge und Einheimische untragbar.
Behelfsbehausung im "Camp" Moria. Es ist kalt, nass, es gibt nicht genügend Toiletten, Duschen, Essen, keine Schule, keine Sicherheit, kein Asylverfahren, keine Zukunft. Viele Migranten versuchen, illegal nach Nordeuropa, Deutschland, zu kommen. Die Lage ist für Flüchtlinge und Einheimische untragbar.
© Aris Messinis/AFP

In Berlin befürchtet man, dass die von den griechischen Inselbewohnern geforderte Umsiedlung einer größeren Zahl von Migranten ohne Chancen auf Asyl von den Inseln auf das Festland noch mehr Menschen motivieren könnte, sich als irreguläre Migranten nach Griechenland aufzumachen. Denn vom Festland aus findet sich manchmal dann eben doch ein Weg, um nach Deutschland zu kommen. Verwandte oder Schlepper holen die Migranten beispielweise mit Autos ab.

Mann aus Jemen erstochen

Behördenvertreter kritisierten die Pläne Athens zum Bau größerer Flüchtlingslager auf Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros. Erst kürzlich gab es in Moria gewalttätige Ausschreitungen, nachdem ein Mann aus Jemen im Camp erstochen wurde. Danach seien Afrikaner gegen Afghanen losgegangen. Schon vorher gibt es immer wieder Ausschreitungen, die seelisch vorbelasteten Migranten selbst geraten angesichts der Lebensverhältnisse teils in Ausnahmezustände, wie auch eine Geflüchtete in ihrem Blog beschreibt.

Krieg im Bild. So was zeichnen Kinder, die Ärzte ohne Grenzen in einer Kinderklinik an der Straße von Camp Moria behandeln. Viele kommen traumatisiert an, aber die Lage auf der Flucht macht alles noch schlimmer.
Krieg im Bild. So was zeichnen Kinder, die Ärzte ohne Grenzen in einer Kinderklinik an der Straße von Camp Moria behandeln. Viele kommen traumatisiert an, aber die Lage auf der Flucht macht alles noch schlimmer.
© Annette Kögel

Da Transitlager auf den Inseln nahe Stränden zum Ende des Monats geschlossen werden sollen, befürchten Einheimische Zustände wie 2015, als an Straßen und Stränden Tausende Migranten schliefen. Derzeit kommen beispielsweise wieder mehr Schlauchboote im Schutz der Dunkelheit von der Türkei in Griechenland an.

"Bitte nicht wie 2015" – Furcht vor Schließung der Transitlager

Ehrenamtliche, darunter auch viele Griechen, empfangen die Geflüchteten, geben ihnen Decken und Wasser, Hilfsorganisationen fahren sie mit Autos in die Transitlager. Wenn diese nun geschlossen würden, würde es nicht nur in den hoffnungslos überfüllten, behelfsmäßigen Lagern Chaos gebe, sondern auch an den Ankunftsstränden.

Weil sich die Migranten nicht anders zu helfen wissen, brechen sie Olivenzweige ab und machen Feuer oder stehlen vor Hunger Lämmer und Hühner. An einem Menschen im Boot von der Türkei nach Griechenland verdient ein Schlepper rund 1200 Euro.

Brandenburg nimmt erste Flüchtlingskinder auf

Währenddessen hat die Stadt Potsdam am Mittwoch die ersten 25 aus Seenot geretteten unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten aufgenommen. Potsdam ist eine von 40 Städten im Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ und koordiniert das bundesweite Netzwerk.

Man sei froh, dass die Bestrebungen der Initiative dazu beitragen konnten, die humanitäre Katastrophe an den europäischen Grenzen weiter in den Fokus zu rücken, erklärte Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD). Bis zur vollen Auslastung der Platzkapazität in den Unterkünften werde die Stadt tun, was möglich sei. (mit AFP, dpa)

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