„Trotz festgestellter Mängel“: Giffey darf ihren Doktortitel behalten
Familienministerin Giffey waren Plagiate in der Doktorarbeit vorgeworfen worden. Die FU Berlin erteilt der SPD-Politikerin eine Rüge – lässt ihr aber den Titel.
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) kommt wegen der wissenschaftlichen Mängel in ihrer Doktorarbeit überraschend mit einer Rüge davon. Die Freie Universität Berlin, an der Giffey 2010 mit einer Dissertation über „Europas Weg zum Bürger“ promoviert wurde, sieht davon ab, ihr den Doktorgrad zu entziehen. Das teilte die Universität am Mittwochabend mit. Giffey wird eine Rüge erteilt, weil sie „die Standards wissenschaftlichen Arbeitens nicht durchgängig beachtet hat“.
„Das Präsidium der Freien Universität Berlin hat nach eingehender Prüfung und einer mehrstündigen Sitzung am heutigen Mittwoch einstimmig beschlossen, Frau Dr. Franziska Giffey für ihre Dissertation eine Rüge zu erteilen und den ihr 2010 vom Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften verliehenen Grad „Doktorin der Politikwissenschaft“ (Dr. rer. pol.) nicht zu entziehen“, hieß es in einer Mitteilung der FU.
Trotz der festgestellten Mängel könne nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, dass es sich bei Giffeys Dissertation „um eine eigenständige wissenschaftliche Leistung“ handele, hieß es weiter. „Das Gesamtbild der festgestellten Mängel rechtfertigte die Entziehung des Doktorgrades daher nicht.“
Das FU-Präsidium hielt jedoch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Rüge für angemessen. Ansonsten aber lobt die FU die Dissertation als „wesentlichen Beitrag zum Kenntnisstand“ der Forschung über die EU-Politik.
Weg zu höheren Aufgaben in Berlin wäre frei
Giffey teilte am Abend mit, durch die Entscheidung des FU-Präsidiums sei nun Klarheit geschaffen. Sie werde ihre Arbeit als Bundesfamilienministerin „weiter mit großem Engagement und viel Freude“ fortsetzen.
Die Entscheidung der FU hat weitreichende Folgen für die Bundes- sowie die Berliner Landespolitik. Giffey hatte angekündigt, im Falle einer Aberkennung ihr Amt als Bundesfamilienministerin niederzulegen. Das ist jetzt vom Tisch.
Der Beschluss der Universität kommt aber zu spät für eine Kandidatur für den SPD-Vorsitz. Giffey hatte darauf wegen des schwebenden Verfahrens verzichtet, obwohl ihr große Chancen eingeräumt worden waren.
Jetzt steht ihr der Weg frei, sich künftig für höhere Aufgaben in Berlin zu bewerben. Ambitionen auf den Vorsitz des SPD-Landesverbands sowie das Rote Rathaus werden der populären Sozialdemokratin schon länger nachgesagt. Mit ihr an der Spitze könne die Hauptstadt-SPD wieder Wahlen gewinnen, lautet die Überzeugung vieler Genossen.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe, die auch Mitglied im Berliner Landesvorstand ist, sagte dem Tagesspiegel: „Ich freue mich sehr für Franziska Giffey. Ich bin mir sicher, dass sie weiterhin auf Bundesebene, aber auch in der Berliner SPD eine starke Rolle spielen wird.“
Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) gilt seit längerem als angeschlagen und wenig durchsetzungsfähig. In der Partei sind viele unzufrieden mit dem Landesvorsitzenden und wären froh über eine Ablösung durch Giffey.
Vor zwei Wochen deutete Müller im Interview mit dem Tagesspiegel an, er können sich nach dem Ende der Legislaturperiode 2021 auch einen Wechsel in den Bundestag vorstellen. „Ich bin gerne Regierender Bürgermeister“, sagte er. „Und trotzdem gibt es natürlich auch andere schöne politische Aufgaben.“
Fachleute beanstandeten 199 Textstellen
Giffey wurde 2010 mit der zweitbesten Note „Magna cum Laude“ am Fachbereich Politikwissenschaften der FU promoviert. Sie hatte nach den Plagiatsvorwürfen immer erklärt, ihre Doktorarbeit „in bestem Wissen und Gewissen“ verfasst zu haben.
Die Familienministerin hatte die FU selber um eine Prüfung der Arbeit gebeten. Allerdings hätte die FU das nach Bekanntwerden der Vorwürfe ohnehin machen müssen, denn bei einer Promotion handelt es sich um ein Verwaltungsakt, der rückgängig gemacht werden muss, wenn er rechtswidrig zustande kam.
Die Kommission, die Giffeys Arbeit seit Februar dieses Jahres überprüft hat, sei zu dem Schluss gekommen, dass die „problematischen Textstellen“ nicht „überhandnehmen“, teilte die Freie Universität mit. Dabei beruft sich das Gremium auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2017.
Das milde Urteil der FU widerspricht grundlegend einer Plagiatsdokumentation durch die unabhängige Plattform VroniPlagWiki. Die Plagiatsexperten hatten die Überprüfung der Arbeit im Februar ausgelöst und im Mai abschließend 119 Textstellen auf 76 von 205 Seiten im Hauptteil der Arbeit beanstandet – und damit einen Plagiatsanteil von 37,1 Prozent der Seiten.
Gerhard Dannemann, Juraprofessor an der Humboldt-Universität und Mitarbeiter bei VroniPlag Wiki, warf der FU in einer ersten Reaktion vor, ständige Rechtsprechung zu ignorieren. Mit der Berufung auf das Urteil von 2017 zu einem anderen Plagiatsfall versuche die FU „mehrere Jahrzehnte Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte beiseite zu schieben“, sagte Dannemann. Nach diesen Urteilen sei es nicht zulässig, „alle Plagiatsstellen abzuziehen und zu schauen, ob der Rest der Arbeit gut genug ist“.
Kai Portmann, Amory Burchard, Paul Starzmann