25 Jahre deutsch-armenische diplomatische Beziehungen: Geografie ist Schicksal
Armenien ist umgeben von schwierigen Nachbarn. Doch das Land muss mit allen auskommen. Eine Bestandsaufnahme.
Noch im 19. Jahrhundert nannten europäische Geografen das Land zwischen dem Südkaukasus und den benachbarten Hochebenen des Iran und Anatoliens Armenisches Hochland. Es wird überragt vom Doppelgipfel des Ararat – mit 5137 Metern der bekannteste der zahlreichen Vulkane der Region, der von alters her als Sitz von Göttern und Dämonen gilt. Spätestens seit dem 12. Jahrhundert deutete man ihn als Berg der Landung der Arche Noah. Der Ararat mit der Arche ziert noch heute das armenische Staatswappen, obwohl der allen Armeniern heilige Berg 1921 durch sowjetrussisches Diktat der Türkei zufiel. Sein Anblick versinnbildlicht den Einwohnern der Hauptstadt Jerewan täglich die Verluste, die politische Willkür ihrem inzwischen sehr kleinen Land zufügte.
Im Armenischen Hochland kreuzt die Seidenstraße die Fernhandelsroute, die den Iran und das Schwarze Meer verbindet. Im Altertum und im Mittelalter stritten die östlich und westlich benachbarten Großmächte um das verkehrsgünstige wie strategisch bedeutende Durchgangsgebiet: erst der Iran mit Byzanz, dann das Osmanische Reich mit dem Iran und Russland. Im Ergebnis verlor Armenien bereits im 11. Jahrhundert seine Eigenstaatlichkeit und im frühen 20. Jahrhundert mehr als neun Zehntel seines historischen Siedlungsraums. Mit 29 743 Quadratkilometern entspricht das heutige Staatsgebiet der Fläche des Bundeslandes Brandenburg.
Dass die indigene Bevölkerung des umkämpften Hochlandes dennoch sämtlichen Bekehrungs- und Assimilationsversuchen ihrer Unterdrücker und Fremdherrscher widerstand, verdankt sie einer frühen Christianisierung. Nach armenischer Überlieferung erhob der damalige König Trdat III. Arschakuni bereits im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion. Die Schaffung eines Nationalalphabets (404) und die Übersetzung der Bibel ins Armenische (433) trugen entscheidend dazu bei, dass die neue Religion alle Schichten und Landesteile erreichte.
Unter sowjetischer Herrschaft waren Armenier erneuter Verfolgung ausgesetzt
In der an Verfolgungen und Katastrophen reichen 3000-jährigen Geschichte der Armenier markiert das 20. Jahrhundert den traurigen Tiefpunkt: Dem 1915/16 vom jungtürkischen Nationalistenregime verübten Völkermord fielen 1,5 Millionen beziehungsweise etwa 60 Prozent der im Osmanischen Reich beheimateten Armenier zum Opfer. Die Überlebenden flüchteten in den bis 1918 russisch beherrschten Rest Armeniens, in den Iran oder blieben in den nahöstlichen Deportationsgebieten.
Unter sowjetischer Herrschaft waren Armenier seit Ende 1920 erneuter Verfolgung ausgesetzt. Sie gipfelte zur Zeit der stalinistischen „Säuberungen“ in der Festnahme und Deportation zahlreicher des Nationalismus verdächtiger Personen nach Sibirien. Grundstücke und Güter der armenisch-apostolischen Kirche, die de iure nicht mehr existierte, wurden beschlagnahmt, Geistlichen das aktive und passive Wahlrecht entzogen.
Die Reformversuche unter Michail Gorbatschow ermutigten auch viele Sowjetarmenier zu Protesten: gegen den riskanten Betrieb eines Atomkraftwerkes in der dicht besiedelten Araratebene, wo sich seismische Verwerfungen kreuzen, vor allem aber gegen die 1921 erzwungene Abtrennung von mehr als 20 000 Quadratkilometern armenischer Mehrheitsgebiete zugunsten der Nachbarn Georgien und Aserbaidschan. Die zu über 90 Prozent von Armeniern bewohnte Region Arzach (türk. Karabach) wurde dabei zur Morgengabe der protürkischen Bündnispolitik Sowjetrusslands im Südkaukasus: Sowjetrussland und Aserbaidschan hatten Armenien zwar seit Dezember 1920 und zuletzt am 4. Juli 1921 den Anschluss Arzachs zugesagt. Doch am 5. Juli 1921 schlug es Moskau auf türkisches Drängen plötzlich Aserbaidschan zu. Dieses wiederum erklärte nur das zentrale Drittel zum „Autonomen Gebiet Berg-Karabach“, trennte es durch einen Korridor von Armenien und vernachlässigte Karabach wirtschaftlich und kulturell, um die Bevölkerung zur Abwanderung zu treiben. Eingaben der traditionell prorussischen Karabach-Armenier in Moskau scheiterten. Im Februar 1988 erklärte daher der Oberste Sowjet des Autonomen Gebiets einseitig den Austritt aus dem Bestand Aserbaidschans und beantragte den Anschluss an Sowjetarmenien.
Der von Russland und Kasachstan vermittelte Waffenstillstand bleibt labil
Aserbaidschan rächte sich mit Massakern an armenischen Minderheiten in den Städten Sumgait, Kirowabad (Gandscha) und Baku, was zugleich eine reziproke Massenflucht der jeweiligen Minderheiten aus Aserbaidschan und Armenien auslöste. Aserbaidschans Versuch, Arzach zwischen Dezember 1991 und Mai 1994 militärisch zurückzuerobern, kostete 40 000 Menschen das Leben, darunter 23 000 Armenier. Etwa 80 000 Armenier und 30 000 Aserbaidschaner flüchteten aus dem umkämpften Autonomen Gebiet, 700 000 weitere Aserbaidschaner aus den angrenzenden Bezirken des historischen Arzach.
Der von Russland und Kasachstan vermittelte Waffenstillstand bleibt labil, wie zuletzt im April 2016 ein erneuter aserbaidschanischer Angriff auf das inzwischen de facto unabhängige Gebiet beweist. Vermittlungsversuche der OSZE um eine dauerhafte Friedenslösung scheiterten ebenfalls, weil schon früh alle nichtstaatlichen Strukturen von den Verhandlungen ausgeschlossen wurden, darunter die Konfliktpartei Berg-Karabach, aber auch sämtliche Vertreter der Zivilgesellschaften Karabachs, Armeniens und Aserbaidschans. Ein zentrales Friedenshemmnis bleibt die Unvereinbarkeit des nationalen Selbstbestimmungsrechts, auf das sich die Arzach-Armenier berufen, mit dem von Aserbaidschan beanspruchten Grundsatz territorialer Unversehrtheit. Obwohl sich Armenien mit Arzach de facto in Währungs- und Wirtschaftsunion befindet, hat es mit Rücksicht auf seine internationalen Kreditgeber bis heute nicht gewagt, die Minirepublik Arzach förmlich anzuerkennen.
Die Türkei versteht sich als Schutzmacht Aserbaidschans
Armenien und Aserbaidschan gehören zu jenen weltweit 16 Ländern, deren Militärhaushalt mehr als vier Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt. Der Global Militarization Index 2015 weist Armenien nach Israel und Singapur an dritter Stelle unter den zehn militarisiertesten Staaten der Welt aus. Aserbaidschan hat seinen Militärhaushalt seit 2005 um den Faktor 16 erhöht und Armenien damit in einen Rüstungswettlauf getrieben – vermutlich, um es bedingungslos an den Verhandlungstisch zu zwingen. Jerewan verdreifachte seinen Militärhaushalt im selben Zeitraum auf 436 Millionen US-Dollar (2016). Waffen kauft es – wenn auch günstiger – ebenso wie Aserbaidschan bei Russland ein.
Viele Armenier nehmen den Konflikt in und um Berg-Karabach als Versuch wahr, pantürkische Konzepte auf den Südkaukasus auszudehnen und dort den „türkischen“ Genozid fortzusetzen; Armeniermassaker am Ende der russisch-imperialen Herrschaft über den Südkaukasus – Baku 1918 (30 000 Tote), Schuschi 1920 (20 000 Tote) – sowie am Ende der Sowjetherrschaft scheinen diese Sicht zu bestätigen.
Die Türkei wiederum versteht sich entsprechend der Doktrin des aserbaidschanischen Präsidenten Haydar Alijew („eine Nation in zwei Staaten“) als Schutzmacht Aserbaidschans. Präsident Erdogan erklärte während des Vier-Tage Krieges 2016, er werde Aserbaidschan „bis zum Schluss“ unterstützen. 1993 hatte sich die Türkei der Blockade der Landwege angeschlossen, die Aserbaidschan 1989 gegen Armenien verhängt hatte und die Armenien in den ersten Jahren seiner Unabhängigkeit in eine tiefe energiewirtschaftliche Krise stürzte, bis es sich 1995 zur Wiederinbetriebnahme des maroden Atommeilers entschloss und sich in die energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland begab.
Das Land befindet sich noch immer in einer schwierigen geopolitischen Konstellation
Als Regierungschef hatte Erdogan den zeitweiligen Annäherungsprozess bereits 2009 hintertrieben, als er unmittelbar nach Unterzeichnung der „Zürcher Protokolle“ bei einem Staatsbesuch in Baku Präsident H. Alijew versprach, die Türkei werde die Protokolle nur ratifizieren, falls sich die armenischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten Aserbaidschans zurückzögen. Beide Länder verweigern Armenien bis heute die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Die Verknüpfung der türkisch-armenischen Beziehungen mit der Lösung des Karabach-Konflikts beendete die von den damaligen Präsidenten beider Staaten – Serge Sargsjan und Abdullah Gül – glaubhaft angestrebte Normalisierung. 2015 strich Präsident Sargsjan die Zürcher Protokolle von der Tagesordnung Armeniens.
In seiner Lage zwischen „Hammer und Amboss“ – wie der damalige Regierungschef Simon Wrazjan 1920 Armeniens „Wahl“ zwischen türkischer Expansion und sowjetrussischer Vereinnahmung umschrieb – wählte Armenien die Sowjetisierung als geringeres Übel. Nach fast 100 Jahren befindet sich das Land noch immer in einer schwierigen geopolitischen Konstellation, obwohl sich seine Staatsführung verzweifelt um eine ausgewogene Außenpolitik zwischen Ost und West bemüht: Armenien ist Mitglied des Europarats und gehört sowohl dem Nato-Pakt für den Frieden an als auch der GUS, der Eurasischen Zollunion sowie der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO). In Abstimmung mit der Venedig-Kommission des Europarats hat Armenien seine bisher semipräsidiale Demokratie zu einer parlamentarischen Demokratie umgebaut.
Armeniens Beziehungen zum Iran sind gegenwärtig die entspanntesten
Viele Bürger argwöhnen, dies diene einzig dem Machterhalt der nationalkonservativen regierenden „Republikanischen Partei“ und Präsident Sargsjan, dessen Amtszeit 2018 endet. Er könnte dann – ähnlich wie das russische Tandem Putin-Medwedjew – als Ministerpräsident weiterregieren. Auch die ausgeprägte Oligarchie und ihre enge Verflechtung mit politischen Entscheidungsträgern gleichen russischen Verhältnissen. Schätzungsweise 40 Personen kontrollieren nicht nur die gesamte Wirtschaft einschließlich Bergbau und Bankwesen, sondern genießen allzu oft Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung. Korruption und Vetternwirtschaft sind bis in höchste Regierungskreise verbreitet, während ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.
Armeniens Beziehungen zum Iran sind gegenwärtig die entspanntesten, verglichen mit seinen drei übrigen Nachbarn. Armenien erhebt keine Gebietsansprüche, und die etwa 70 000 Armenier iranischer Staatszugehörigkeit stellen im Unterschied zu den Aserbaidschanern keine irredentistische Bedrohung für den Iran dar. Falls Russland es zuließe, wären Armeniens Wirtschaftsbeziehungen zum Iran noch intensiver.
Geradezu vorbildlich im Vergleich mit der Zerstörung und Vernachlässigung armenischer Kulturdenkmäler in Aserbaidschan und der Türkei wirkt der Umgang der Islamischen Republik Iran mit geistlichen armenischen Architekturdenkmälern. So ließ sie die Wallfahrtsklöster Surb Thaddei Wank und Stepanos Wank sowie die Marienkapelle des Klosters Dsordsor auf Staatskosten restaurieren und unterstellte sie dem Schutz der Unesco als Weltkulturerbe.
Die Autorin ist Philologin, Soziologin und freie Autorin. Sie war Forschungsassistentin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.
Tessa Hofmann