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Selbstfindung.
© Karikatur: Stuttmann

Die Zukunft der SPD: Genossen, seid mal realistisch!

Die "Vereinigten Staaten von Europa" retten die SPD nicht aus der Ideen-Klemme. Stattdessen braucht es einen "neuen Realismus", argumentieren zwei Mitglieder der SPD-Grundwertekommission. Ein Gastbeitrag.

Die Suche der SPD nach sich selbst ist eine anstrengende Geschichte: kräftezehrend, diffus, widersprüchlich, bisweilen auch realitätsfern. Oft sind es mehr die eigenen Fehler als die Stärke und Gemeinheiten der Anderen, die der SPD zu schaffen machen. Die SPD zeigt gegenwärtig, wie sehr sie unter ihrer eigenen großen Geschichte, bescheidenen Gegenwart und ungewissen Zukunft leidet.

Um sich aus dieser Tristesse zu befreien, wurde die Opposition nicht nur als Befreiung, sondern als ein Sehnsuchtsort begriffen. Durch den Rückzug ins Oppositionsreich der Freiheit hofft man dem uralten sozialdemokratischen Zwiespalt zwischen eigenem Zukunftsentwurf und schnöder Realität zu entgehen. Doch diese unpolitische Romantik ist heute schwerer zu begründen, als es am Abend  der Wahlniederlage schien.

Spätestens seit der republikanischen Pflichtanmahnung durch den Bundespräsidenten löste die Oppositionssehnsucht eine kritische Debatte aus, deren Ende gerade im Inneren der SPD nicht absehbar ist. Es sind weniger die jüngeren Wahlniederlagen selbst, die der SPD zusetzen als der innerparteiliche Konflikt darüber, wer sie ist, wer sie sein will und sein kann. Gegenüber stehen sich diejenigen – wie schon 2013 - die mit der neuerlichen „großen“ Koalition einen weiteren Schritt in Richtung Abgrund befürchten und deshalb die Opposition als eine Chance der Selbstfindung und Selbstrettung begreifen und jene, die mit Franz Müntefering Opposition vor allem  als „Mist“ verstehen.

Die Partei ist verunsichert

Ob in Regierung oder Opposition, die Selbstfindung der SPD wird sich in einem Koordinatensystem sozio-ökonomischer und kultureller Konflikte vollziehen, deren Parameter die Partei mit strategischer Weitsicht durchaus verändern kann. Doch die Partei ist verunsichert: Durch die alte, neue Macht der großen Unternehmen, die Abwanderung der Arbeiter und kleinen Leute zu den Nichtwählern, der Union und den Rechtspopulisten, die Sozialkritik von links und die ökologischen Vorhaltungen der Grünen aus der bürgerlichen Mitte. Dies strukturiert und begrenzt zugleich den politischen Raum, der von der Sozialdemokratie besetzt werden kann, wenn alles so bliebe wie es jetzt ist.

Da ist zunächst die traditionelle Links-Rechts Achse. Sie spielt bei den Wählerpräferenzen eine größere Rolle als im politischen  Diskurs häufig angenommen wird. Der fehlende Glaube an die Wirkung traditioneller sozialdemokratischer Konzepte ließ auch die SPD in klassischen Wirtschafts- und Verteilungsfragen weiter in die Mitte rücken.  Damit räumte sie Positionen, die es der Partei Die Linke erlaubte, sich dort als gesamtdeutsche Partei zu etablieren. Zur Rechten begrenzte die Merkel-CDU mit ihrer Wende in der Geschlechter-, Familien- und Gesellschaftspolitik sowie wahlopportunistischen Zugeständnissen in Wirtschafts- und Sozialfragen den Wahlerfolg der SPD unter den Mitte-Wählern. Die SPD-Führung hatte die Rechnung ohne die demoskopisch kalkulierende Wirtin im Kanzleramt gemacht.

Auch die neue kulturelle Konfliktlinie verläuft mitten durch die SPD

Seit ungefähr drei Jahrzehnten entwickelt sich in Europa eine neue kulturelle Konfliktlinie. Sie durchschneidet die traditionelle Links-Rechts Achse. Sie trennt  autoritär eingestellte untere (Bildungs-)Schichten von liberal eingestellten höheren Schichten. Letzteren sind die liberalen Freiheitsrechte, multikulturelle Einstellungen und die eigene Selbstverwirklichung zur  progressiven Heimat geworden. Es sind nicht zuletzt jene Mittelschichten und ihre Kinder, die die SPD nach 1968 für sich gewann. Diese zeigen sich heute im kosmopolitischen Gewande und treten im moralischen Gestus für offene Grenzen ein, ohne die materiellen Folgelasten auf dem Arbeits-, Wohnungs- oder Bildungsmarkt selbst tragen zu müssen.

Unter diesen kulturell progressiven, aber umverteilungsabgeneigten Schichten sind mittlerweile die Grünen deutlich erfolgreicher als die Sozialdemokraten. Zusätzlich begrenzt nun auch noch die AfD den Mobilisierungsraum der Sozialdemokratie.  Für den Rechtspopulismus erwiesen sich jene Wählergruppen als anfällig, die kulturell autoritäre Neigungen sowie Abstiegsängste haben, die nationale Identität der Multikulturalität vorziehen, die Immigration begrenzen wollen und der Europäischen Integration eher skeptisch gegenüber stehen.

Die sozioökonomische und die kulturelle Konfliktlinie erzeugen einen Mehrfronten-Wettbewerb für die SPD, der dilemmatische Züge trägt. Rückt die SPD in sozioökonomischen Fragen zu weit nach rechts, erntet die LINKE die Stimmen enttäuschter SPD-Wähler. Rückt die SPD stärker in den linken Raum, verliert sie bürgerliche Wähler in der Mitte an die Merkel-CDU. Berücksichtigt die SPD umweltpolitische Belange zu wenig, stehen die Grünen bereit, den ökologischen  SPD-Wählern eine neue politische Heimat zu bieten. Folgt sie den kosmopolitischen Neigungen ihrer besser verdienenden Mittelschichten und plädiert für offene Grenzen in der Immigrationsfrage, verliert sie unter den traditionellen Arbeitern und „kleinen Leuten“. Die AFD ist schon längst zum Auffangbecken dieser Enttäuschten geworden, die sich in den Diskursen der SPD-Kosmopoliten nicht mehr zu erkennen vermögen.

In sozioökonomischen Fragen steht die SPD zu weit rechts

In sozioökonomischen Fragen ist die SPD zu weit nach rechts gerückt, in Identitätsfragen zu einer Partei der besser gestellten Kosmopoliten geworden. Es ist diese Mischung aus externen Restriktionen und selbst verschuldetem Profilverlust im politischen Raum, die die SPD auf eine halbierte Volkspartei schmelzen ließ, der gerade die Arbeiterschaft und damit auch Teile der Mittelschicht abhandengekommen ist.

Die SPD war bis in die 50er Jahren als klassische Arbeiterpartei beheimatet. Angesichts einer sich rasant ausdifferenzierenden Gesellschaft glich diese Heimat  einem Turm,  der ihre Mehrheitsfähigkeit verhinderte. Den Turm hat die SPD nach 1959 verlassen und hat es nach 1968 zu beachtlichen Wahlerfolgen unter Arbeitern und modernen Mittelschichten gebracht. Heute hat sie in nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen eine gleich schwache Präsenz. Nirgendwo dominiert und prägt sie.

Wie kann die SPD verlorenes Terrain zurückerobern? Was Sigmar Gabriel 2009 in seiner legendären Dresdner Rede ankündigte, dorthin zu gehen, wo es stinkt und kracht, wurde zu wenig eingelöst. Die politische Kärrnerarbeit in Berlin-Neukölln, Dortmund-Nord oder Duisburg-Marxloh hatte keine Verbindung zu den selbstreferentiellen kosmopolitischen Diskursen akademischer Kreise in Berlin. Die Lebenswelten gleichen heute eher dem „entweder-oder“ als dem „sowohl als auch“.  Aber gerade das kritisch-solidarische Miteinander von werteorientierten Pragmatikern und politischen Visionären benötigt die SPD, um den politischen Raum neu zu strukturieren, zu besetzen und wieder auszudehnen.

Mehr Kontakt zu den Gewerkschaften - und zwar nicht nur auf Funktionärsebene

Als Partei eines neuen Realismus, die kommunitaristische Arbeitermilieus und kosmopolitische Mittelschichten gleichermaßen berücksichtigt, die Alltagsarbeit und Visionen zusammendenkt, dafür wird die SPD gebraucht. Um ihren eigenen Tradition in einer neuen Zukunft gerecht zu werden, bedarf sie eines substantielleren Verhältnisses zu den Gewerkschaften. Dieses darf sich nicht in diplomatischen Beziehungen der Spitzenfunktionäre erschöpfen. Notwendig ist eine lebendige Kooperation auf der kommunalen Ebene und in den Betrieben, wo die Sozialdemokratie kaum mehr präsent ist.

Der Platz der SPD ist nicht die Zuschauertribüne. Die Idee eines Trainingslagers in der Opposition passt nicht zu den Regenerationsmöglichkeiten eines hochvernetzten politischen Systems, in dem eine Partei wie die SPD durch die Länder noch immer mitregiert. Für eine souveräne Partei, die sich als Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei versteht, gehören Koalitions- wie Regierungsfähigkeit  mit politischer Erneuerung zusammen.

In der Koalition muss die SPD jene Themen stark machen, die den Menschen unter den Nägeln brennen: Rente, Mieten, Pflege, Gesundheit, Bildung, Investitionen und eine ebenso humanitäre wie sozialverträgliche Einwanderungspolitik. Es geht um die wirkungsvolle Bändigung des Kapitalismus nicht um abstraktes Projektpathos in der Opposition. Die Oppositionsrolle als links zu projektieren und Regierungsverantwortung als rechts zu diffamieren, entspricht eher der politischen Kultur von Studentenparlamenten als der Notwendigkeit das größte Land Europas verantwortlich zu regieren.

Auf der Suche nach einer großen Überschrift für die SPD zieht nun die Parteispitze die „Vereinigten Staaten von Europa“ aus dem Hut. Diese hat sie sich schon einmal, nämlich 1925 ins Parteiprogramm geschrieben. Nun sollen sie in sieben Jahren kommen. Das werden leere Buchstaben bleiben und ein nicht eingelöstes Versprechen sein. Großbritannien zurück in die EU? Polen, Ungarn, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Griechenland als solidarische Bundesstaaten neben Frankreich, Deutschland und Benelux? Das ist eine Illusion. Was mit der EWG der 6 und der EG der 9 Länder nicht geklappt hat, soll nun in einer EU der 27 möglich sein? Das hängt nicht von Deutschland ab. Auch die Achse Berlin-Paris reicht da nicht mehr. Die Länder Osteuropas, aber auch jene Skandinaviens sind nicht bereit, weiter Kompetenzen abzugeben. Es wäre schon viel erreicht, wenn die verheerende Entsolidarisierung in Europa gestoppt würde, das unilaterale Gebaren Deutschlands in der Schulden- und Flüchtlingskrise aufhörte, Steueroasen geschlossen würden und das neoliberale Wettbewerbsrecht eine soziale Einhegung bekäme. In der Opposition ginge auch das nicht.

Die SPD wird gebraucht. Um sich selbst und die Gesellschaft davon zu überzeugen hat sie nicht mehr viel Zeit. Eine reiche Gesellschaft sollte auch solidarisch und gerecht sein. Wir dürfen uns nicht weiter mit einer funktionierenden Zwei-Drittel Demokratie zufrieden geben. Die weniger Begünstigten unserer Gesellschaft brauchen einen starken Anwalt, das Gleiche gilt für die „arbeitende Mitte“.  Sollte die SPD in eine gar nicht mehr so Große Koalition einwilligen, darf sie nicht glauben, dass es mit einem sozialdemokratisch starken Einfluss auf den Koalitionsvertrag getan sei. Will sie nicht bei den nächsten Wahlen erneut unter die Räder geraten, muss sie anders als in der zurückliegenden Legislatur auch  über die gesamte Regierungsperiode hinweg starke Akzente setzen und ihr Profil weiter entwickeln. Selbst eine Rotation im Kanzleramt sollte dabei nicht Tabu sein. Dies mag manchen wie eine Illusion klingen. Verglichen mit den Vereinigten Staaten von Europa in sieben Jahren erscheint es allerdings als eine der leichteren Aufgaben. 

- Prof. Wolfgang Merkel und Prof. Wolfgang Schroeder sind Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Mitglieder der Grundwertekommission der SPD.

Wolfgang Merkel, Wolfgang Schroeder

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