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Stau auf der Berliner Stadtautobahn.
© Kay Nietfeld/dpa

Stau-Hauptstadt Berlin: Genießt den Stau doch einfach!

Es geht wieder nicht voran im Auto? Staus gehören zum Leben wie Liebeskummer. Vergessen wird oft: Verschwendete Zeit kann geschenkte Zeit sein. Eine Glosse.

Achtung, jetzt wird’s ein wenig philosophisch. Von der Zeit heißt es, dass man sie verlieren, vergeuden und verschwenden kann. Was aber ist verschwendete Zeit? Viele würden sagen, im Stau stehen. Das sei pure Zeitverschwendung. Keine Freizeit, keine Arbeitszeit, einfach sinnlos vergeudete Zeit.

Berlin ist Deutschlands Stau-Hauptstadt. Im vergangenen Jahr verbrachte der gemeine Autofahrer durchschnittlich 154 Stunden im zähfließenden Verkehr oder Stau. Das ist zwar pillepalle im Vergleich zu vielen anderen europäischen und vor allem außereuropäischen Metropolen. Aber was nützt schon der Gedanke an die Ferne, wenn sich das Vorderauto und das Vorvorderauto und das Vorvorvorderauto seit langer Zeit keinen Zentimeter bewegt haben? Zeit ist ein absolut knappes Gut, weiß der Volksmund, es kann nicht gekauft, gespart oder gelagert werden. Wer im Stau steht, hat das Gefühl, keine Zeit zu haben, seine Zeit zu verschwenden.

Im Englischen gibt es die gegenteilige Devise. „Take the time to waste a moment“, heißt sie, frei übersetzt: Nimm dir Zeit, um ein wenig Zeit zu vergeuden. Kein Wichtigkeits- oder Effizienzdruck, keine plagenden Sinnfragen oder Verpassensängste. Wer unter Staus leidet, will unter Staus leiden. So simpel ist das. Schließlich steht es jedem frei, sich innerlich umzupolen und die Zeit im Stau zu genießen.

Wer will, kann Musik hören, volle Lautstärke, das Lieblingsstück gleich dreimal hintereinander. Er kann darüber nachdenken, woran es liegt, dass man einige Musikstücke, obwohl man sie in- und auswendig kennt, immer wieder hören kann, was beim Lesen von Zeitungsartikeln ja eher selten geschieht. Oder Radio hören, Berichte aus aller Welt im Deutschlandfunk. Oder eine Aufzeichnung der „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Die Parabel aus dem Jahr 1963 stammt von Heinrich Böll. Kurz zusammengefasst geht sie so:

In einem kleinen Hafen am Mittelmeer liegt ein Fischer in seinem Boot und dämmert vor sich hin. Ein wohlhabender Tourist kommt vorbei und fragt den Fischer, wie viele Fische er heute schon gefangen habe. Nicht sehr viele, antwortet der Fischer, er sei aber mit seinem Fang zufrieden. Daraufhin rechnet ihm der Tourist vor, was er alles erreichen könnte, wenn er ein zweites Mal aufs Meer hinausfahren, also doppelt so viel fangen würde.

Bald könne er ein zweites Fischerboot kaufen, andere Fischer einstellen, immer reicher werden. „Und dann?“, fragt der Fischer. „Am Ende könntest du dich zur Ruhe setzen und einfach am Hafen vor dich hin dösen“, sagt der Tourist. „Das kann ich jetzt auch schon“, erwidert der Fischer.

Verpasste Termine, verpestete Luft

Verschwendete Zeit kann geschenkte Zeit sein. Das sagt sich so leicht – ist aber so schwer zu machen. Denn Staus sind eben auch Mist. Verpasste Termine, verpestete Luft. Es nützt bloß nichts, sich darüber aufzuregen. Staus sind wie Abitursstress, Liebeskummer oder Älterwerden, ein brutum factum, wie der Lateiner sagt, ein unabänderlicher Lebensbegleiter.

So lange keine verpflichtenden Umerziehungsprogramme für Autofahrer beschlossen werden oder komplette Fahrverbote, wird es Staus geben. Heute, morgen, übermorgen. Ob Baustellen oder nicht, BVG-Streik oder nicht, Regen oder Sonnenschein: Der Stau kommt, das ist sicher, auf jeden Fall sicherer als die Rente.

Tröstlich aber ist auch dieser Gedanke: Im Stau sind alle gleich. Die Ministerin mit Chauffeur in der dunklen Limousine steckt ebenso fest wie der Erzieher in seiner klapprigen Ente. Sie können noch so oft die Spur wechseln, sich vor- oder dazwischen drängeln, am Ende stehen Limousine und Ente doch wieder nebeneinander. Bis auf den Tod gibt es kaum etwas Gerechteres als Staus. Sie treffen jeden gleich.

Wahrlich, es gibt Zeiten, die sich ärgerlicher verschwenden lassen als die im Stau. Schlechte Texte lesen, langweilige Menschen treffen, versalzenes Essen essen, Wagner hören, die Liste wird lang und länger. Einen Grund, sich ausgerechnet über Staus zu beschweren, gibt es jedenfalls nicht. 154 Stunden im Jahr, das ist weniger als eine halbe Stunde am Tag. Das sitzt der mündige Autofahrer doch locker ab.

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Malte Lehming

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