Heftige Kritik auch an Außenminister Maas: Geheimdienstkontrolleure lehnen Rücktritt des BND-Chefs ab
Die politischen Meinungen über personelle Konsequenzen des Afghanistan-Desasters gehen weit auseinander. Nur eine Partei fordert vehement Rücktritte.
Die Geheimdienstkontrolleure des Bundestages sehen bei den Vorgängen um den Siegeszug der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan weiterhin erheblichen Aufklärungsbedarf über Erkenntnisse von Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundesregierung.
Die zuständigen Behörden hätten deutlich gemacht, dass nach ihren Erkenntnissen die Entwicklungen vom Wochenende in Kabul und Afghanistan nicht absehbar waren, sagte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Roderich Kiesewetter (CDU), nach einer Sitzung des Gremiums mit der Befragung von BND-Präsident Bruno Kahl am Donnerstag in einer abgestimmten Erklärung.
Es wurde deutlich, dass Vertreter von Union, Grünen und Linkspartei aktuell keine Notwendigkeit für einen Rücktritt Kahls sehen. Kiesewetter sagte, das geheim tagende Gremium wolle kommende Woche erneut beraten, die Analyse der Kontrolleure sei noch nicht abgeschlossen. Auf die Frage, ob Kahl zurücktreten müsse, ergänzte er: „Das sehe ich überhaupt nicht so.“ Die Frage stelle sich nicht, „und auch künftig nicht“.
Der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz sagte, die Fragen zur Gesamtsituation in Kabul blieben im Raum - und zwar im Hinblick auf alle Dienste und Behörden, die für die Einschätzung der Situation verantwortlich gewesen seien.
Auf die Frage, ob es ein Problem der Dienste oder eines der Regierung gebe, die von ihnen beliefert worden sei, sagte er: „Mein Eindruck war, dass die Dienste geliefert haben und wir ein Problem haben bei der Bewertung und der Gesamtbilderstellung auf Seiten der Bundesregierung.“ Es gebe ein Problem, die verschiedenen Informationen zusammenzuführen. „Das ist ein Problem aus Seiten der Bundesregierung.“
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Im Fokus stehe die Frage, wie künftig die Aufklärungssituation verbessert werden könne, sagte von Notz. Auch nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, mit der die Befugnisse etwa des BND eingeschränkt worden waren, stehe außer Frage, dass der BND und andere Nachrichtendienste „ein vollkommen berechtigtes Interesse haben, in solchen Hotspots wie Afghanistan“ aufzuklären. Es gebe „terroristische Strukturen, die diesen Logiken unserer Erkenntnisgewinnung ausweichen. Und damit müssen wir uns intensiv befassen, denn so etwas darf sich nicht wiederholen.“
Die Grünen behalten sich vor, im Bundestag einen Untersuchungsausschuss zu Afghanistan zu beantragen. „Es wäre absolut notwendig, dieses Riesendesaster und die unglaublich große Zahl von Fehlern aufzuarbeiten“, sagte der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. Man wolle aber zunächst die für Mittwoch geplante Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) abwarten.
Nouripour beklagte, dass Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in den Sondersitzungen der Bundestagsausschüsse für Auswärtiges und Verteidigung zentrale Fragen nicht beantwortet hätten. „Wäre das Ende der Legislaturperiode nicht schon in neun Wochen, hätten wir nach den nichtssagenden Auftritten von Maas und Kramp-Karrenbauer den Antrag schon gestellt.
Die Legislaturperiode endet spätestens am 26. Oktober, weil der neue Bundestag bis dann zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommen muss - am 30. Tag nach der Wahl am 26. September. Theoretisch könnte ein Untersuchungsausschuss auch jetzt schon eingesetzt werden. Er hätte dann aber nur noch zwei Monate Zeit für Konstituierung, Zeugenbefragungen, Auswertung von Akten und die Erstellung eines Abschlussberichts. Falls auch der neue Bundestag Aufklärungsbedarf sehen würde, könnte er dann aber einen weiteren Untersuchungsausschuss einsetzen.
Für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses reichen die Stimmen von 25 Prozent aller Abgeordneten aus. Das heißt, dass eine Zustimmung der Regierungsfraktionen nicht unbedingt notwendig ist. Rücktrittsforderungen an Maas unterstützte Nouripour nicht, obwohl er dem Minister drastische Fehler vorwirft. „Wir sind mitten in einer Evakuierung und deswegen brauchen wir jetzt einen Außenminister, der das organisiert“, sagte er zur Begründung.
Auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat wegen der jüngsten Ereignisse in Afghanistan Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhoben. "Leider hat in Afghanistan das westliche Bündnis insgesamt und damit auch die deutsche Bundesregierung die Lage vor Ort falsch eingeschätzt", erklärte er nach einer Fraktionssitzung am Donnerstag. Die Gründe dafür müssten umfassend analysiert und anschließend die richtigen Schlüsse gezogen werden.
Söder lehnt Personaldebatten derzeit ab
"Im Vordergrund muss aber jetzt die Evakuierung der Ortskräfte und der anderen bereits häufig genannten besonders bedrohten Personen stehen", betonte Mützenich. Er bedaure es, "dass angesichts der dramatischen Situation einige nicht davon ablassen können, auf dem Rücken der Menschen, für die es um Leben und Tod geht, Wahlkampf zu treiben".
"Auch wenn manche Entscheidungen im Nachhinein als falsch zu bewerten sind", solle es niemandem abgesprochen werden, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben, mahnte der Fraktionsvorsitzende. Auch solle niemandem vorgeworfen worden, "Menschenleben leichtfertig aufs Spiel gesetzt" zu haben. "Ich rufe alle Fraktionen dazu auf, sich entsprechend maßvoll zu verhalten."
Hintergrund sind die Vorwürfe unter anderem gegen Außenminister Maas und auch Innenminister Horst Seehofer (CSU), für den späten Beginn der Rettungsaktion für die Ortskräfte verantwortlich zu sein.
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CSU-Chef Markus Söder lehnt Personaldebatten zum jetzigen Zeitpunkt ab. "Unter dem Strich ist Afghanistan ein Debakel - für den Westen, aber eben auch für uns", sagte Söder am Donnerstag nach einer Schaltkonferenz des CSU-Präsidiums in München. Insbesondere die Art und Weise des Abzugs sei "sehr beschämend".
Gleichwohl halte er nichts davon, "personelle Debatten jetzt zu führen", sagte Söder mit Blick auf Rücktrittsforderungen unter anderem an Außenminister Heiko Maas (SPD). "Wir gehen ohnehin davon aus, dass der Großteil der Betroffenen und in der Diskussion stehenden Personen nach der Wahl nicht mehr für neue Amtsaufgaben zur Verfügung steht", fügte er allerdings hinzu. "Jedenfalls würden wir auch darauf drängen, dass das dann so ist, muss man deutlich sagen, insbesondere was den Außenminister betrifft", betonte der CSU-Chef weiter.
Was in Afghanistan passiert sei, sei eine "schwere Niederlage des Westens", bekannte Söder. Es bringe aber nichts, jetzt auch zwischen den beteiligten Bundesministerien die Schuld hin- und herzuschieben. Der CSU-Chef sprach sich dafür aus, nach der Wahl "eine große Enquete-Kommission zu berufen und das gesamte Afghanistan-Engagement zu bewerten". Dabei solle es weniger um "kleinste Details" gehen als um eine grundsätzliche Bewertung, auch der gesamten Außen- und Sicherheitspolitik.
Der außenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Armin-Paul Hampel, fordert hingegen den sofortigen Rücktritt von Außenminister Maas. Auch BND-Chef Kahl müsse aufgrund der „völligen Fehleinschätzungen“ seiner Behörde sein Amt sofort niederlegen, sagte Hampel am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur.
Jetzt müssten „politisch Köpfe rollen“, das Handeln der Bundesregierung sei ein „völliges Desaster“. Auch bei der Einrichtung der Luftbrücke habe das Außenministerium auf ganzer Linie versagt. „Man kriegt es nicht mal hin, die Leute zu erfassen, denen wir helfen wollen“, sagte der AfD-Politiker weiter, der in den 90ern als ARD-Korrespondent aus Afghanistan berichtet hatte. Andere Minister seien in Deutschland schon „aus ganz anderen Gründen“ zurückgetreten. Die Federführung für die Afghanistan-Politik habe nun mal beim Auswärtigen Amt gelegen, sagte Hampel.
Aus seiner Sicht kommt die Krise in Afghanistan alles andere als überraschend. Die Staatengemeinschaft habe jahrelang mit den Taliban „gemeinsame Sache“ gemacht, sagte Hampel. „Es muss eine politische Verantwortung für die größte Niederlage eines Nato-Landes in der Geschichte geben.“
„Es ist ja egal, wer jetzt zu welchem Zeitpunkt zurücktritt“
Die Äußerungen von FDP-Vize Wolfgang Kubicki zu einem möglichen Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Afghanistan-Krise nach der Bundestagswahl bezeichnete Hampel als „Feigenblatt“. Die Fraktionen außerhalb der Regierungskoalition hätten 20 Jahre lang die Afghanistan-Politik „mitgemacht und abgesegnet“, obwohl ausreichend Informationen vorgelegen hätten, „dass unsere Mission zum Scheitern verurteilt ist“. Ein Untersuchungsausschuss sei „das Mindeste“, sagte Hampel weiter, aber bliebe sehr wahrscheinlich ohne Konsequenzen.
Kubicki hatte am Donnerstag in der Sendung „Frühstart“ von RTL/ntv gesagt, dass er nach der Wahl am 26. September mit einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Afghanistan rechne. An Maas und Kahl übte Kubicki ebenfalls scharfe Kritik.
Linksfraktionsvize André Hahn sagte zur Frage von persönlichen Konsequenzen für BND-Präsident Kahl: „Es ist ja egal, wer jetzt zu welchem Zeitpunkt zurücktritt. Die Bundesregierung bleibt geschäftsführend im Amt. Diese Diskussionen bringen uns alle nicht weiter.“ Es müsse aufgeklärt werden, Ortskräfte und deutsche Staatsbürger müssten aus Afghanistan herausgeholt werden. „Das steht im Vordergrund. Und dann haben andere das Wort, nämlich die Wählerinnen und Wähler.“
Hahn wolle vor allen Dingen wissen, „warum der Bundesnachrichtendienst offenbar vollständig ahnungslos gewesen ist. Man hat sich scheinbar komplett auf die Amerikaner verlassen, die in diesem Fall auch nicht wussten, wie schnell es gehen kann. Man hatte keine eigenen Erkenntnisse.“
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Jetzt stehe der BND „komplett nackt“ da, kritisierte Hahn. „Wofür hält man sich einen solchen Auslandsgeheimdienst, wenn er nicht in der Lage ist, eigene Erkenntnisse zu generieren und rechtzeitig die Bundesregierung zu informieren?“ Der BND habe die Pflicht, die Bundesregierung zu warnen oder ihr Hinweise zu geben - und habe „offenbar komplett versagt“.
Hahn erklärte, er könne dies noch nicht abschließend beurteilen, aber der BND habe offenbar „nicht ausreichend Zugänge“, um Informationen an die Bundesregierung weiterzugeben. „Und das stellt natürlich die gesamte Arbeit dort in Frage.“ Er erinnerte daran, dass die Linke den Afghanistan-Einsatz stets abgelehnt habe. Jetzt müsse das Leid der Menschen dort gelindert werden. „Aber da muss auch der gesamte Einsatz aufgearbeitet werden - einschließlich der Rolle der Nachrichtendienste.“ (dpa, AFP)