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Die Angeklagte Beate Zschäpe bei der Ankunft im Gerichtssaal Anfang Mai.
© AFP/Pool/Michaela Rehle

Justiz-Marathon in München: Fünf Thesen nach fünf Jahren NSU-Prozess

Am 6. Mai 2013 begann in München der NSU-Prozess. Warum der Rechtsstaat trotz Schwächen funktioniert und manche Angeklagte nicht zu retten sind.

Einen solchen Marathon hat niemand erwartet. Als am Morgen des 6. Mai 2013 in München der NSU-Prozess begann, als Scharen von Journalisten und Zuschauern nach stundenlangem Warten in den Eingang des Oberlandesgerichts strömten, als die fünf Angeklagten den bunkerartigen Saal A 101 betraten und Fotografen und Kameraleute zu Beate Zschäpe drängten, die sich sofort umdrehte und trotzig ihren Rücken zeigte, als dann der Vorsitzende Richter Manfred Götzl die Verhandlung schon kurz nach Beginn wegen eines Befangenheitsantrags für eine ganze Woche unterbrach, hätte trotz des aufschimmernden Konfliktpotenzials kein Anwalt, kein Medienmensch und auch sonst kein Experte prophezeit, in fünf Jahren sei noch immer kein Urteil verkündet.

Doch diesen Sonntag beginnt nach 422 Verhandlungstagen das sechste Jahr im größten Prozess zu rechtsextremem Terror seit der Wiedervereinigung. Die Republik, so scheint es, schüttelt kollektiv den Kopf. Wahnsinn ohne Ende? Fünf Thesen zum Jahrhundertverfahren.

1. DER RECHTSSTAAT FUNKTIONIERT

Dem ersten Befangenheitsantrag folgten bis heute mehrere Dutzend gegen Götzl und seine Kollegen. Doch der 6. Strafsenat hält stand. Der NSU-Prozess ist nicht geplatzt. Ein Abbruch wäre für den Rechtsstaat die zweite dramatische Pleite, nach der ersten wegen der gravierenden Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bei den Ermittlungen zu den als „Dönermorde“ falsch bewerteten Anschlägen der Terrorzelle. Dank Götzls energischer Regie ist jedoch eine gigantische Beweisaufnahme absolviert.

Knapp 600 Zeugen und Sachverständige haben sich zu den Angeklagten und den Taten geäußert, die Beate Zschäpe, dem Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben sowie Carsten S., Holger G. und André E. vorgeworfen werden. Die Bundesanwaltschaft hat in der Anklage aufgelistet, was die Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ verbrochen hatte: neun rassistische Morde an Migranten türkischer und griechischer Herkunft, den Mord an einer Polizistin in Heilbronn, zwei Sprengstoffanschläge in Köln, 15 Raubüberfälle. Und in Verbindung mit mehreren Delikten auch versuchte Morde.

Geschossen, gesprengt und geraubt hatten stets die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Sie waren gemeinsam mit Zschäpe im Januar 1998 abgetaucht. Im November 2011 kam die Polizei in Eisenach den beiden Männern nach dem Überfall auf eine Sparkassenfiliale auf die Spur. Böhnhardt und Mundlos töteten sich, Zschäpe setzte die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand.

Nach vier Tagen Flucht stellte sich die Frau in Jena der Polizei. Die Bundesanwaltschaft hält Zschäpe für ein Mitglied der Terrorzelle und für die Mittäterin bei allen Delikten des NSU. Die vier weiteren Angeklagten gelten als Helfer, die auch viel Schuld auf sich geladen haben.

Nach fünf Jahren Prozess ist kaum zu bezweifeln, dass die Fülle der Indizien reicht, um die Angeklagten angemessen zu verurteilen. Die Bundesanwaltschaft fordert für Zschäpe lebenslänglich, mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, dazu Sicherungsverwahrung. Der 43-jährigen Frau droht Haft bis zum hohen Alter. Bei den vier mutmaßlichen Komplizen halten die Ankläger Strafen von drei bis zwölf Jahren für nötig.

Die Richter werden vermutlich ein Urteil fällen, das den Anträgen der Bundesanwaltschaft weitgehend entspricht. Selbst wenn es Überraschungen geben sollte, ist angesichts der akribischen Beweisaufnahme und der erwartbar präzisen Urteilsbegründung kaum vorstellbar, der Bundesgerichtshof könnte der Revision von Verteidigern stattgeben.

Der Rechtsstaat dürfte den NSU-Komplex, soweit es den Prozess betrifft, ohne Rechtsfehler aufgearbeitet haben. Und es ist rechtspolitisch bemerkenswert, dass eine Hauptverhandlung auch mit mehr als 90 Nebenklägern und ihren knapp 60 Anwälten nicht in Chaos abgleitet.

2. DER RECHTSSTAAT HAT SCHWÄCHEN

Auch ein rechtskräftiges Urteil kann nicht verbergen, dass im NSU-Komplex viele Fragen nicht beantwortet sind. So ist es weder dem Oberlandesgericht noch Bundesanwaltschaft und Polizei gelungen, die Auswahl der Mordopfer durch Böhnhardt und Mundlos zu klären. Wie die Neonazis in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel und Heilbronn auf die ihnen unbekannten Menschen kamen, bleibt ein Rätsel.

Hatte der NSU Komplizen, die Hinweise auf die neun Migranten und die Polizistin gaben? Auch die NSU-Untersuchungsausschüsse von Bundestag und Landesparlamenten haben in diesem Punkt keine Klarheit erreicht. Die blinden Flecken sind für die Angehörigen der Ermordeten unerträglich. Sie wisse immer noch nicht, „warum ausgerechnet mein Vater ausgewählt wurde“, klagte Gamze Kubasik, als sie im November 2017 im Prozess ihr Plädoyer vortrug.

Blick auf die Prozessbeteiligten in München im März 2016.
Blick auf die Prozessbeteiligten in München im März 2016.
© Tobias Hase/dpa

Böhnhardt und Mundlos hatten Mehmet Kubasik im April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen. Gamze Kubasik tritt in dem Verfahren als Nebenklägerin auf. Offen bleibt auch, warum es Polizei, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaften nicht gelang, den NSU zu stoppen. Im Prozess wie in den Sitzungen der Untersuchungsausschüsse wabert ein Nebel von Vermutungen über V-Leute und mögliche Kontakte zum NSU. Den definitiven Beleg, dass eine Behörde genau wusste, wo Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sich aufhielten und welche Verbrechen sie begingen, gibt es nicht. Die Vernichtung von Akten hat allerdings das Vertrauen in den Rechtsstaat beschädigt.

3. MANCHE ANGEKLAGTE SIND NICHT ZU RETTEN

Zschäpe und Wohlleben sitzen seit November 2011 in Untersuchungshaft. Die beiden sind mit den schwersten Tatvorwürfen konfrontiert. Zschäpe ist als mutmaßliches NSU-Mitglied die Hauptangeklagte, Wohlleben soll die Zentralfigur der Unterstützerszene gewesen sein und die Mordwaffe Ceska 83 beschafft haben. Mit der Pistole erschossen Böhnhardt und Mundlos die neun Migranten. Dass in Zschäpes Kopf heute Reue statt Rechtsextremismus dominiert, ist zweifelhaft. Und bei Wohlleben auszuschließen.

Zschäpe hat im Dezember 2015 ihren Anwalt im Prozess vortragen lassen, sie fühle sich „moralisch schuldig“. In der Einlassung gibt sie sich allerdings als Opfer von Böhnhardt und Mundlos und behauptet, sie sei von den beiden nicht losgekommen. Der psychiatrische Sachverständige Henning Saß sprach hingegen in seinem Gutachten vom Verdacht auf „antisoziale Züge“ und einen „tief eingeschliffenen inneren Zustand“.

Wohlleben gibt sich als unbeugsamer Rechtsextremist und ließ im Prozess sogar ein Werbevideo der Szene vorführen. Unbeirrt Neonazi ist offenbar auch der schweigende Angeklagte André E., auf dessen Oberkörper die Parole „Die Jew Die“ (Stirb Jude stirb) prangt. Holger G., Typ Riesenbaby, hat zu Beginn des Prozesses zugegeben, Unterstützer gewesen zu sein, will aber von den Verbrechen des NSU nichts gewusst haben. Ein umfassendes Geständnis hat nur Carsten S. abgelegt. Er war an der Beschaffung der Ceska 83 beteiligt. Schon im Jahr 2000 hat er die rechte Szene verlassen.

4. DER NSU IST WIEDER MÖGLICH

Seit dem NSU-Schock schauen die Sicherheitsbehörden genauer hin, wenn sich in der rechten Szene eine militante Gruppe bildet. Die Bundesanwaltschaft hat seit 2011 mehrere Terrorverfahren gegen Neonazis und Reichsbürger eingeleitet. Die Ermittlungen belegen aber auch, dass Teile der Szene weiterhin zum bewaffneten Kampf neigen. Erst recht seit dem enormen Zustrom von Flüchtlingen.

5. ÖFFENTLICHER DRUCK MUSS BLEIBEN

Der NSU war auch möglich, weil Politik und Öffentlichkeit das Geraune der Sicherheitsbehörden über „Dönermorde“ hinnahmen, anstatt nach einem möglicherweise rassistischen Hintergrund zu fragen. Dass nun zumindest ein Teil der Medien permanent auf den NSU-Komplex blickt und über Defizite in der Aufklärung berichtet, könnte das Risiko verringern, die Behörden würden in der Wachsamkeit nachlassen – und rechten Terror noch einmal übersehen.

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