Viele wollen Corona-Impfstoff nicht: Fünf Optionen gegen die Astrazeneca-Flaute
Karl Lauterbach lässt sich demonstrativ impfen. Die Politik ist alarmiert, dass Astrazeneca-Dosen oft nicht gewollt sind. Wie nun gegengesteuert wird.
Vielleicht ist es typisch deutsch. Erst war wegen des nicht gut gelaufenen EU-Bestellprozesses vom Impfchaos die Rede. Nun kommt nach und nach mehr Impfstoff an, doch ein Vakzin wird zum Ladenhüter, das von Astrazeneca.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vergleicht das schon mit der Corona-App, die sei wochenlang schlecht geredet worden, entsprechend dürftig entwickelte sich die Nutzung. "Wir dürfen uns als Gesellschaft nicht in etwas hineinreden", sagt er, und warnt, einen EU-weit zugelassenen und wirksamen Stoff nun madig machen.
Die Berichte von der Basis sind längst nicht alle negativ. Pünktlich zu ihrem 48. Geburtstag ist zum Beispiel im Sauerland eine Mitarbeiterin der Diakonie geimpft worden. "Hauptsache geimpft und das Risiko eines schweren Verlaufs gebannt“, berichtet sie von einem ganz neuen Freiheitsgefühl. Und nein, sie habe keine Nebenwirkungen. Im Impfzentrum Lüdenscheid habe man sich über alle die Vorurteile gewundert, denn hier würden sich die in der Impfpraxis nicht bewahrheiten.
Das Problem hat die Politik aufgeschreckt: Von fast 740.000 an die Länder gelieferten Astrazeneca-Dosen wurden bisher nur 107.000 verimpft. In Sachsen blieben tausende Impftermine frei.
Nun kommen weitere 736.800 Dosen des Astrazeneca-Impfstoffs, obwohl von der ersten Lieferung erst rund 14 Prozent verimpft worden sind.
[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können.]
Zehn Bundesländer liegen nach einer Tagesspiegel-Recherche über diesem Schnitt, auch Berlin. In Hamburg wurde mit rund 28 Prozent bisher am meisten verimpft.
In Baden-Württemberg aber sind von 100.800 Impfdosen bislang lediglich 1086 verimpft worden, das macht eine Quote von einem Prozent. In Brandenburg, Hessen und Sachsen sind rund vier Prozent verimpft worden.
Wenn bis April fünf Millionen Dosen erwartet werden, könnte die Skepsis alle Impfpläne durcheinanderbringen und die Pandemie-Einschränkungen verlängern.
Was kann getan werden?
1. Vorangehen: Die „Bild“, die die Kanzlerin wegen der Startprobleme an den Pranger gestellt hat, fordert nun, dass Angela Merkel sich bei der Impfreihenfolge vordrängelt und öffentlich mit Astrazeneca impfen lässt. Nun hat sie immer gesagt, dass sie sich impfen lässt, wenn sie dran ist. Da sie 66 Jahre alt ist, dürfte sie gemäß der Empfehlungen der Ständigen Impfkommission auch nicht mit dem Stoff geimpft werden.
Spahn hat bereits gesagt, dass er sich mit Astrazeneca impfen lässt. Noch vor ihm wird bereits kommende Woche der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach den ersten Piks bekommen.
Denn er wird als Impfarzt in einem Leverkusener Impfzentrum arbeiten, dort werden alle geimpft, um sich und andere dort zu schützen. „Ich werde mich dort, wie alle Mitglieder des Impfzentrums, natürlich mit Astrazeneca impfen lassen“, sagt er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Wir wollen ein klares Bekenntnis zu Astrazeneca abgeben, das ist ein sicherer und guter Impfstoff."
2. Die Impfreihenfolge ändern: Das kann sich auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) vorstellen - so könnten Lehrer und Polizisten früher die erste Dosis Astrazeneca bekommen. In Brandenburg wird das bereits konkret geplant, dort sollen Polizisten eine Corona-Impfung bekommen, obwohl sie nicht in der ersten Gruppe dabei sind.
Es geht zunächst um gut 1000 Polizisten im Streifendienst oder in Bereitschaft, die zum Beispiel auf Anti-Corona-Demos im Einsatz sind. Auch Lehrer könnten zum Beispiel früher dran kommen. Lauterbach hält aber nichts davon, jetzt groß die Reihenfolge zu verschieben, Ärzte und Pfleger würden trotzdem nicht den für ältere Gruppen reservierten Impfstoff von Biontech/Pfizer oder Moderna bekommen.
Das würde letztlich nur bedeuten, "dass die größten Risikogruppen, also auch Ärzte und Pfleger unter 65 Jahren länger gefährdet sind." Den Impfstoff erhalten bisher vor allem Pflegekräfte in Heimen und Personal in Intensivstationen, Notaufnahmen sowie Rettungsdiensten.
3. Mehr aufklären: Vor allem die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko), den Impfstoff nur für unter 65-Jährige einzusetzen, „hat offenkundig dem Impfstoff geschadet, viele sehen ihn unberechtigterweise als Impfstoff zweiter Klasse“, kritisiert Lauterbach. Die Stiko hatte noch vor der EU-Empfehlung mangels ausreichender Daten die Altersbeschränkung empfohlen, in anderen Staaten wird er aber erfolgreich an ältere Bürger verimpft.
Im Bundestag wird teils deutliche Kritik an der Stiko geäußert, sie hätte zu wenig virologische Expertise. Und auch 70 Prozent Wirksamkeit gelten als hoch.
Die FDP-Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus betont auf Tagesspiegel-Anfrage: „Auch aus meinem Wahlkreis haben mich Informationen erreicht, wonach es zu Impfreaktionen beim Pflegepersonal gekommen ist“.
[Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]
Die Bundesregierung müsse einfach mal klarstellen, dass Impfreaktionen eine Antwort des Immunsystems seien. Die Wirksamkeit des Präparats sei dadurch nicht eingeschränkt. „Der Impfstoff hat ein ordentliches EU-Zulassungsverfahren durchlaufen.“
Die meisten Bundesländern berichten bisher keine größeren Nebenwirkungen. „In der Regel verschwinden die Symptome nach 48 Stunden wieder“, sagt die ärztliche Leiterin des Impfzentrums Bremen, Jutta Dernedde.
Die Ministerien in NRW und Bayern berichten, was auch die Stiko des RKI vorhergesagt hatte: Die häufigsten lokalen Reaktionen waren Schmerzen an der Einstichstelle. Unter den systemischen Reaktionen waren Abgeschlagenheit sowie Kopfschmerzen die häufigsten Ereignisse. Darin unterscheide sich der Astrazeneca-Impfstoff allerdings nicht von den beiden anderen zugelassenen Impfstoffen.
4. Freiwilligenregister: Kann das Problem nicht gelöst werden, könnten die Bundesländer Datenbanken mit Freiwilligen erstellen, die sich früher als geplant impfen lassen, wenn zu viel Astrazenca-Impfstoff auf Halde liegt. Das halten auch Mediziner für eine ernsthafte Option. Die FDP-Politikerin Aschenberg-Dugnus betont zu dieser Möglichkeit dagegen: „Wir haben die Notwendigkeit einer geordneten Impfpriorisierung lange debattiert. Deshalb halte ich nichts davon, sich nun vorzudrängeln oder diese Priorisierung mit einem Freiwilligenregister zu torpedieren." Sie lasse sich auch sofort damit impfen, aber sie an der Reihe sei. Es brauche jetzt vor allem mehr Einsatz der Bundesregierung. „Der Impfskepsis innerhalb der Bevölkerung sollte man mit offener und transparenter Kommunikation entgegenwirken.“
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]
5. Keine Alternative. „Wir sollten die unter 65-Jährigen weiter nur mit Astrazeneca-Impfstoff impfen“, sagt Lauterbach. Auch in Berlin wird die geltende Wahlfreiheit inzwischen von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) kritisch gesehen. Auch im Impfzentrum Tegel konnten tausende Astrazeneca-Dosen offenbar nicht verimpft werden.
In Bayern ist man da strenger. „Eine Ablehnung eines Impfstoffs führt nicht zum generellen Ausschluss vom Impfangebot", teilt ein Sprecher des Gesundheitsministeriums zwar mit. „Die Person muss dann jedoch mit erneuten Wartezeiten rechnen.“
Und angeboten wird weiter dann nur Astrazeneca. Wegen der teils verhaltenen Impfbereitschaft haben jetzt auch die großen Organisationen der Ärzteschaft die Pflegerinnen und Pfleger eindringlich aufgerufen, sich impfen zu lassen. Der Stoff von Astrazeneca, „helfe, schwere Krankheitsverläufe und Krankenhausaufenthalte zu vermeiden“.
Drostens Erklärung für die Verwirrung
Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité hat noch eine ganz besondere Erklärung, warum es so viel Verwirrung um diesen Stoff gibt. Er ist von Forschern der Universität Oxford mitentwickelt worden, sei quasi ein halb-akademischer Impfstoff, und entsprechend viel würde zu seiner Wirkung publiziert, nicht immer stimmig, valide und medial mitunter schief dargestellt.
„Das führt dazu, dass wir bei dieser Astravakzine viele, viele Wissenschaftshäppchen präsentiert bekommen“, sagte Drosten im NDR-Podcast. "Also, da ist hier eine Patientengruppe und da ist eine Unterstudie und hier ist noch mal ein extra Labortest gemacht worden. Dann gibt es noch mal eine Unterauswertung in einem Land“.
Manchmal wäre es besser gewesen, alles in einem internationalen Vergleich mit deutlich größeren und belastbareren Zahlen zu sehen, "bevor man große Schlüsse daraus zieht". Astrazeneca wirke, ganz klar. "Aber wenn ich mir die öffentliche Diskussion um diesen Impfstoff so anschaue, da ist schon vieles falsch verstanden worden."