„Ihr wisst, wie es hier aussieht“: Frühere Ortskräfte fürchten Nato-Abzug aus Afghanistan
Die Nato zieht aus Afghanistan ab. Der Machtgewinn der Taliban bringt frühere afghanische Ortskräfte in Bedrängnis. Woran ihre Aufnahmen scheitern.
Ahmad Jawid Sultani fühlt sich im Stich gelassen. Fast zehn Jahre arbeitete der heute 31-Jährige für deutsche Stellen in Afghanistan, als Kulturberater und als Dolmetscher für die Bundeswehr in Masar-i-Sharif. „Die Nato-Truppen waren abhängig von unserer Unterstützung“, sagt Sultani zum jahrelangen Einsatz der Ortskräfte nun dem Tagesspiegel.
Jahrelang riskierte er so sein Leben, wie er berichtet. Nun fürchtet er, noch immer im Norden Afghanistans, um sein Leben und das seiner Frau, fühlt sich bedroht vom Machtzuwachs der Taliban. Sie gewinnen an Boden und Sultani sagt: „Ich bin habe Angst wie nie zuvor.“
Sein derzeit größtes Problem: Seine Zeit für deutsche Stellen endete bereits im Frühjahr 2018. Sie liegt außerhalb der Zwei-Jahres-Frist. In diesem Zeitfenster ist die Bundesregierung derzeit bereit, Anträge von Ortskräften für eine Aufnahme in Deutschland zu prüfen.
„Ich bin nicht weniger bedroht, nur weil meine Arbeit länger zurückliegt“, sagt Sultani. „Wenn die Taliban fragen, wie ich zu den Ausländern stand, weiß ich nicht, was ich ihnen antworten soll.“
Anlaufstellen in Kabul und Masar-i-Sharif, mehr Personal für Visaanträge
Fälle wie jener Sultanis sind für die Bundesregierung ein heikles Thema. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte sich schon im April für ein schnelles Verfahren zur Aufnahme von Ortskräften stark gemacht. „Ich empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen.“
Zuletzt wurden Anlaufstellen in Kabul und Masar-i-Sharif eröffnet, in denen die Fälle rasch abgearbeitet werden sollen. Alle Ressorts hätten Maßnahmen ergriffen, etwa Personal verstärkt, um Gefährdungsanzeigen und Visaanträge rasch zu bearbeiten, teilen Bundesinnenministerium (BMI) und Verteidigungsministerium (BMVg) auf Anfrage mit.
Dem Vernehmen nach hatte sich zuletzt vor allem das Verteidigungsministerium dafür stark gemacht, auch Fälle von Ortskräften zu prüfen, die vor mehr als zwei Jahren aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden sind. Sprecher des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums gaben jedoch vergangene Woche zu erkennen, dass die Ministerien die Regelung nicht weiter öffnen wollen.
„Die beteiligten Ressorts haben vor Jahren diese Zwei-Jahres-Frist bei ehemaligen Ortskräften vereinbart. Dieses Verfahren hat sich bewährt“, teilte das BMI dem Tagesspiegel nun auf Anfrage mit.
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Flexibler scheint es das BMVg zu sehen: „Das Interesse des Bundesverteidigungsministeriums ist es, die Regelungen an die aktuellen Bedingungen vor Ort anzupassen“, so das BMVg auf Anfrage. "Ortskräfte standen während unseres Afghanistan-Einsatzes an unserer Seite.
Wenn sie aufgrund dieser Tätigkeit in Gefahr geraten, trägt die Bundesregierung als Ganzes Verantwortung für deren Sicherheit", sagte Ministerin Kramp-Karrenbauer am Freitag dem Tagesspiegel. „Die Bundeswehr wird nicht mehr lange vor Ort sein, aber wir unterstützen, wo wir können – auch wenn wir in Fragen des Einwanderungsrechts nicht die Federführenden sind“, so Kramp-Karrenbauer weiter.
Aus regierungsnahen Kreisen ist zudem zu hören, dass sich mittlerweile die Kanzlerin der Sache angenommen hat.
"Den Taliban ist es egal, wann Ortskräfte tätig waren"
Die aktuelle Regelung greift Kritikern viel zu kurz. Ein Bündnis internationaler Organisationen bemängelte erst in der vergangenen Woche in einem Schreiben an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die „willkürlichen Schutzbarrieren, da jeder Nato-Partner unterschiedliche Kriterien und Ausschlussgründe anwandte“.
Und die Sicherheitslage im Land verändert sich rasch. Nicht einmal mehr 100 Tage verbleiben, bis die Nato vollständig aus Afghanistan abgezogen sein wird. Dass die Taliban an Macht gewinnen, ist offenkundig. Zuletzt fielen an sie binnen 48 Stunden drei Bezirke in drei Provinzen, die Feuergefechte nehmen zu, wie von Beobachtern zuvor für den Beginn des Abzugs vorhergesagt.
„Die Zeit drängt. Den Ortskräften und ihren Familien muss noch schneller und umfangreicher geholfen werden. Nun kann es nicht um Bürokratie gehen, denn für die Afghanen geht es schlicht um ihr Leben“, sagt Marcus Grotian, Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte und selbst Hauptmann der Bundeswehr dem Tagesspiegel.
Hunderte Ortskräfte hat er über die Jahre zusammen mit den Unterstützern des Vereins betreut. Er kennt die Situation der afghanischen Helfer vor Ort. Er übt Kritik vor allem an der zeitlichen Einschränkung, die den Kreis der aufzunehmenden Ortskräfte reduziert: „Die Bundesregierung muss zu all sein Ortskräften stehen, ganz gleich, wann diese für deutsche Stellen gearbeitet haben.
Stattdessen schließt die Bundesrepublik als einziges Land Helfer mit einer Zweijahresfrist aus“, sagt Grotian. Den USA, Großbritannien oder Frankreich sei es dagegen egal, wann Ortskräfte für sie gearbeitet hätten. „Denn den Taliban ist es egal, wann Ortskräfte tätig waren.“
Zehntausende Afghanen haben im Laufe des jahrelangen Einsatzes für die Streitkräfte der Nato-Länder gearbeitet, auch für die Bundeswehr. Aus Angst vor Racheakten der Taliban wollen viele von ihnen nun samt Familien das Land verlassen. Allein die US-Botschaft bearbeitet nach eigenen Angaben aktuell rund 18.000 Anträge für spezielle Ausreisevisa.
Die "Rache" nach einem "Sieg"
Derweil haben ausgerechnet die Taliban die große Gruppe der Ortskräfte, die sie bislang bestenfalls als „Söldner“ bezeichnete, dazu aufgerufen, im Land zu bleiben. Wer als Übersetzer, Wachmann oder anderweitig für ausländische Streitkräfte tätig gewesen sei, solle für seine Handlungen Reue zeigen und sich in Zukunft nicht mehr an solchen Aktivitäten beteiligen, die einem Verrat am Islam gleichkämen, hieß es in einer Mitteilung am Montag. Sie sollten zum normalen Leben zurückkehren und, wenn sie über Fachwissen verfügten, ihrem Land dienen.
„Ihr wisst, wie es hier aussieht“, sagt Sultani auch an deutsche Stellen gerichtet. Der Ankündigung der Taliban, Ortskräfte im Land halten zu wollen, schenkt er im Telefonat wenig Glaubwürdigkeit. Und damit ist er nicht allein.
Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig sagte zuletzt, angesichts jahrelanger systematischer Bedrohung bis hin zu Morden überzeuge ihn die Erklärung der Taliban nicht. Man könne nicht von einem wirklichen Sinneswandel der Taliban ausgehen. Kommandeure sprächen eben immer wieder auch von „Rache“ nach einem „Sieg“.