Irland: Frieren für Europa
Einschränken, verzichten, kürzer treten. Seit 2008 hören die Iren nichts anderes. Nun wollten ihnen Politiker in einem „Bürgerdialog“ erklären, dass Europa nicht die Ursache der Probleme ist, sondern die Lösung. Aber die Wut ist viel zu groß.
Sie meldet sich schon seit fast einer Stunde. Als ihr rechter Arm schwer wird, stützt sie ihn mit dem linken. Sie will unbedingt etwas fragen. „Hey, ich bin Norah“, beginnt sie, als sie das Mikrofon endlich in der Hand hält. Alle schauen sie an, 200 Zuschauer in der Dublin City Hall, zwei Fernsehkameras und vorne auf der Bühne zwei Politikerinnen. Wegen ihnen sind heute alle hier. Auf der orangefarbenen Wand des Saals steht: „Es geht um Europa. Es geht um DICH.“ Die irische Europaministerin und die Vize-Präsidentin der Europäischen Kommission haben soeben das europäische Jahr der Bürger 2013 eröffnet. Es gab Häppchen für alle. Sie lächeln. Norah Sweetman lächelt nicht.
Schon lange hat Norah ihre Frage im Kopf und Wut im Bauch. Am Tag vor dem europäischen Bürgergespräch steht sie im Garten hinter ihrem Haus in Dublin und hackt Holz. Sie holt weit aus, zwei Schläge, und der Scheit ist gespalten. „Wenn es geht, dann lasse ich die Heizung lieber aus“, sagt sie und atmet schwer. Ihre Kinder sind erwachsen, sie lebt allein und heizt nur noch für sich selbst und ihren Hund. Drinnen im Wohnzimmer stapeln sich Decken, ganz oben liegt eine Wärmflasche mit Schafspelzhülle. „Gas wird immer teurer, sie haben die Zuschüsse gekürzt.“ Sie, das sind die irischen Politiker.
2010 musste Irland als erster Staat Hilfen vom europäischen Rettungsschirm beantragen, den irischen Banken drohte der Bankrott. Heute gilt Irland unter den Krisenländern als Musterschüler und wirtschaftet das sechste Jahr hintereinander mit einem Sparhaushalt. Der diesjährige ist der härteste. Die Iren müssen Kürzungen und Steuererhöhungen von 3,5 Milliarden Euro verkraften – auch um die Forderungen ihrer europäischen Gläubiger zu bedienen. „Wieso spart die Regierung ausgerechnet bei den Ärmsten, um die Banken zu retten?“, fragt Norah.
Die Not erlebt Norah täglich. Sie arbeitet mit all denen, die die Krise besonders hart trifft: Alte, Arme, Kinder, Behinderte. Die 57-jährige ist Sozialarbeiterin, viele ihrer Projekte wurden schon gestrichen, weil der Staat sparen muss. Mit den Menschen bleibt sie trotzdem in Kontakt. Sie ist hier im Arbeiterviertel Sandymount geboren und aufgewachsen, kennt hier fast jeden. Sie klopft an die Tür eines Gemeindehauses. „Girls?“, ruft sie und tritt dann ein. Auch hier wird nur sparsam geheizt. Im Büro warten Carmel Magee, 84, und Una Heroy, 91 Jahre alt, auf Norah. Sie sind das leitende Komitee des Altenclubs. Sie haben heute so viel zu erzählen, dass sie sich gegenseitig ins Wort fallen. Jeden Tag im Radio, sagen sie, hören sie von neuen Kürzungen oder Gebühren.
„Hast du die Alarmgeschichte mitbekommen?“, fragt Una Heroy. Norah schüttelt den Kopf. „Das Gerät, das wir um den Hals hängen haben, um im Notfall Hilfe rufen zu können. Das gab es bisher für 60 Euro im Jahr“, erzählt die alte Frau mit den weißen Locken. Nun solle es bald mindestens das Doppelte kosten. „Und wisst ihr, wie sie es begründen?“, fragt sie und grinst ein bisschen schief. „Wir verwenden sie angeblich zu selten wieder. Wenn also einer in unserer Gemeinde krepiert, dann sollen wir ihm das Ding ab jetzt vom Hals nehmen und dem nächsten umhängen.“ Carmel Magee, Una Heroy und Norah kichern.
Seit Beginn der Krise hören die Iren von ihren Regierenden, dass sie über ihre Verhältnisse gelebt haben. Jetzt sollen sie sich einschränken. Tatsächlich erlebte das Land zu Zeiten des „Celtic Tigers“, zwischen 1995 und 2008, nicht nur ein immenses Wirtschaftswachstum um jährlich bis zu zehn Prozent, sondern gab auch entsprechend viel aus – doch davon profitierte schon damals nicht jeder gleich. „Wir waren doch viel zu sehr mit arbeiten beschäftigt, um uns zu amüsieren“, sagt Carmel Magee. Sie glaube manchmal, dass die Zeit zwischen der letzten Rezession in den 80er Jahren und der heutigen nur ein schöner Traum war.
Lehrer dürfen keine Trinkschokolade mehr ausschenken
Vor kurzem haben die alten Damen einen Brief an ihre Regierung geschrieben, sie zeigen ihn Norah. Wir wollen keine Bürde sein, steht darin. Aber auch: Wir können nicht mehr arbeiten, was sollen wir denn tun? Die Regierung hat versprochen, die Renten nicht zu kürzen. Daran hat sie sich gehalten. Aber die Liste der kleinen Extras, die gestrichen wurden, ist lang. Es gibt keinen Sozialdienst mehr, der bedürftigen Alten umsonst im Haus oder beim Einkaufen hilft, Rezepte kosten jetzt 1,50 Euro Gebühr, die Zuschüsse für Heizen und Elektrizität haben die Rentner wie alle anderen Iren gestrichen bekommen. Bisher gab es für Rentner auch einen monatlichen Telefonzuschuss von bis zu 25 Euro. Seit diesem Jahr sind es nur noch neun Euro, das reicht nicht mal für die Grundgebühr. Carmel muss nun vielleicht ihren Vertrag kündigen, mit E-Mails und Telefonaten mit den Enkeln ist dann Schluss.
„Ich bin bei der letzten Europawahl auch deshalb wählen gegangen, weil die Frau in meinem Wahlkreis versprochen hat, die Banken für die Krise zur Verantwortung zu ziehen“, sagt Norah zurück auf der Straße. Doch das habe die Abgeordnete wieder vergessen, sobald sie in Brüssel gelandet sei. Norah versteht nicht, wieso die Menschen in Irland die Einschnitte so still hinnehmen. Im Gegensatz zu Spanien und Griechenland geht hier niemand auf die Straße. „Dabei ist es doch eine Schande, was hier passiert!“
Die Krise springe einen an jeder Ecke an, auch dann, wenn man es nicht für möglich halte. Der Arzt hat neulich bei Norah ein Muttermal entdeckt und gesagt, es müsse dringend weg. Doch auch der Gesundheitssektor muss sparen. Die Liste, welche Operationen als dringend gelten, wurde überarbeitet. Gefährliche Muttermale gelten plötzlich als weniger schlimm. Wartezeit für eine OP: zwei Jahre. „Blöd, wenn ich bis dahin Krebs habe“, sagt Norah. „Der kostet den Staat dann richtig.“ Ihre Tochter hat jetzt eine zusätzliche private Krankenversicherung für Norah abgeschlossen, die ist teuer, dafür kommt man schneller dran.
An all das denkt Norah, als sie beim Bürgerdialog nach dem Mikrofon greift. Auch an die Frau im dicken Parka, die die Hausaufgabenbetreuung der Grundschule in Sandymount leitet, Norahs Stadtteil. Es war eiskalt, als Norah sie und die Kinder dort besuchte. Geheizt wird nur eine Stunde am Morgen, der Hausaufgabenclub geht bis 16 Uhr. Früher wurden Hilfskräfte wie die junge Frau von Norah weitergebildet – kein Geld mehr. Früher saßen hier auch Lehrer dabei, um bei komplizierteren Fragen der Kinder helfen zu können – kein Geld mehr. Nach dem Mittagessen dürfen die Frauen keine Trinkschokolade mehr ausschenken, Müsli gibt es nur noch ohne Joghurt. „Wieso spart Irland bei der Bildung, bei den Kindern?“, fragt Norah. „Das wird sich in Zukunft doch alles rächen. Das ist doch Wahnsinn.“
Europa soll die Lösung sein, nicht das Problem
Das will sie ihrer Europaministerin Lucinda Creighton und der Kommissions-Vizepräsidentin Viviane Reding sagen. Deshalb ist sie gekommen. Sie räuspert sich und sagt dann: „Ich frage Sie und alle hier im Saal: Was würden Sie von einer Familie halten, die fette Autos fährt, gut verdient und gleichzeitig oben im Schlafzimmer die Oma hungern lässt? Die ihr behindertes Kind im Stich lässt? Was würden Sie über die Werte dieser Familie denken?“ Nach einer kleinen Pause fügt sie hinzu: „Genau das macht unsere Regierung.“ Die Leute im Saal klatschen und pfeifen. „Yes!“ ruft einer. Norah setzt sich wieder, sie zittert ein bisschen.
Der Ministerin Lucinda Creighton ist das Lächeln gefroren. Sie zieht ihr weißes Kleid glatt. „Auch wir haben verzichtet, auch wenn das Thema nicht beliebt ist“, sagt sie. Tatsächlich haben irische Abgeordnete ihre Gehälter in den vergangenen Jahren um etwa 14 Prozent gekürzt. Doch damit dringt Creighton im Saal nicht durch. Die Wut ist zu groß. „Warum immer nur die Armen?“, ruft ein Mann aus den hinteren Reihen. Creighton sagt: „Die Einsparungen sind hart, aber sie müssen sein.“ Sie schaut zur Europa-Politikerin Viviane Reding, aber sagt nicht: Auch die europäischen Partner haben Irland zu der harten Anti-Schuldenpolitik gedrängt.
Viviane Reding hat die Szene vom Mittelgang aus beobachtet. Es ist bereits ihr vierter Bürgerdialog, und sie merkt, dass er gerade nicht gut läuft. Das Jahr der Bürger 2013 ist Redings Erfindung. Es soll die Europawahl 2014 vorbereiten. Bei den Dialogen sollen Politiker den Menschen erklären, „dass Europa die Lösung und nicht die Ursache der Probleme ist“. Sie finden in allen Mitgliedsstaaten statt, Reding war schon in Spanien, Österreich und Deutschland. Die Menschen sollen das Gefühl haben, dass Europas Politiker ihnen zuhören, ihre Ideen aufnehmen, dass Europa sie etwas angeht. Sie will Nähe vermitteln, deshalb ist sie – anders als Creighton – auch nicht auf der Bühne sitzen geblieben, sondern läuft durch die Stuhlreihen. Jetzt breitet sie die Arme aus und geht auf Norah zu.
Kurz sieht es so aus, als wolle die Vize-Präsidentin der europäischen Kommission die Sozialarbeiterin aus Dublin umarmen. Dann bleibt sie stehen. Reding hat selbst drei Kinder, ist geschieden und kommt aus dem kleinen Luxemburg. Ihr Land hätte ohne die EU schon lange keine Stimme mehr, davon ist Reding überzeugt. Zwischen Frankreich und Deutschland wären die Eigenheiten des kleinen Staats aufgerieben worden. Europa war Redings Glück, ihre Chance, immer schon. Darum soll es für sie heute gehen: Chancen. Deshalb erzählt sie Norah und den anderen im Saal jetzt nicht, wie Irland ihrer Ansicht nach durch hohe Subventionen und den Export in andere europäische Länder von der EU profitiert. Dass es den Iren ohne die EU viel dreckiger gehen würde. Stattdessen sagt sie: „Ich verstehe Sie, die Situation ist schlimm. Wir gemeinsam müssen dafür sorgen, dass sich diese Situation nicht mehr wiederholen kann.“ Die einheitliche Bankenaufsicht, eine Finanztransaktionssteuer. „Das alles ist nur mit Europa möglich.“
Mit dieser Antwort ist die Krise für heute vorbei. Reding spricht jetzt lieber über die Zukunft, über Visionen für Europa 2020. Bald darauf endet der Dialog. Viviane Reding muss sich beeilen, die Kameras warten. Fünf Interviews, immer ähnliche Fragen, Krise, Krise, Krise. Später wird sie mit dem irischen Justizminister zu Abend essen, es geht um das Programm der kommenden sechs Monate, in denen Irland den Vorsitz im europäischen Rat innehat. Ihr Flieger nach Luxemburg geht erst am nächsten Tag, es wird eine kurze Nacht im Hotel. Bald schon wartet der nächste Dialog im nächsten Staat.
Norah bleibt noch kurz sitzen und schaut in die Papiertüte, die sie am Eingang in die Hand gedrückt bekommen hat. Sie findet viele Broschüren, einen Plastikregenmantel, einen USB-Stick und einen EU-Lolli. Sie lässt die Tasche stehen. „Sie ist wirklich eine gute Rednerin, und ich glaube, es braucht solche Politiker, die nicht in persönlichen Geschichten, sondern in Gesetzen denken“, sagt sie über Viviane Reding, während sie hinaus auf die Straße tritt. Es ist dunkel und regnet, die Pubs leuchten bunt. „Für mich war es heute eine tolle Show, eine Politikshow, schöne Gedanken zu Europa.“ Und dann: „Aber bleibt es nicht das erste Menschenrecht, zu heizen und zu essen?“
Elisa Simantke