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EU-Bürgerdialog: Von Knüppeln und Demokratie

Um die Krise sollte es gehen, um die Rechte der Bürger und die Zukunft Europas. Die EU-Kommission stellte sich den Fragen der Berliner - und wurde überrascht.

Wenn Viviane Reding die Arme ausbreitet, sieht es aus, als wolle sie ihr Publikum umarmen. Es hält sie nicht auf dem Podest, das in der Mitte des Allianz-Forums aufgebaut ist. Weil eine Vize-Präsidentin der EU-Kommission aber nicht einfach den Fragesteller  in den Arm nehmen kann, der in der letzten Reihe ans Mikrofon getreten ist, legt sie dem Moderator die Hand auf die Schulter. „Die EU ist eine große Familie“, sagt sie dann mit Nachdruck. Und: „in einer solchen Familie kommt es auf alle Mitglieder an. Auf alle!“ Sie strahlt. Und die 500 Berliner Bürger, die zum ersten deutschen EU-Bürgerdialog gekommen sind, applaudieren. Offensichtlich finden sie die EU gar nicht so übel - wenn die nur ihre Bürger nur öfter um Rat fragen würde.

Die Veranstaltung in der Nähe des Brandenburger Tors ist an diesem Samstagnachmittag jedenfalls bis auf den letzten europablauen Stuhl besetzt. Schulklassen, Rentner, das Publikum ist gemischt. Über Livestream kann die Diskussion auch im Netz beobachtet werden, die Twitter-Kommentare werden auf eine Leinwand projiziert. Immer wieder nimmt der Moderator auf die angezeigten Kommentare Bezug. Niemand soll sich heute ausgeschlossen fühlen aus der großen Familie der 500 Millionen EU-Bürger.

Drei Themenblöcke sind vorgesehen: Um die Krise geht es, die Rechte der EU-Bürger und die Zukunft Europas. 90 Minuten stellen Reding und die SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt sich den Fragen der Berliner. Zum sitzen kommen sie eigentlich nie, immer wieder ergreift jemand das Mikrofon und die beiden haben sich in den Kopf gesetzt, jedem Fragesteller entgegenzutreten. Was sie hören, ist ganz nach dem Geschmack der Kommissarin und der EU-Parlamentarierin.  Denn obwohl eine Abstimmung während der Veranstaltung zeigt, dass 47 Prozent des anwesenden Publikums finden, die EU tue nicht genug gegen die Krise, 15 Prozent meinen, sie solle sich zu einer Wirtschafts- und Währungsunion zurückentwickeln – die Diskussion führt immer wieder zur Forderung nach mehr Europa. „Was ist mit einem EU-weiten Gesundheitssystem?“, „Wann kommen mehr EU-Zuständigkeiten im Bildungsbereich?“, „Wann wird das Veto-Recht abgeschafft?“.

Viel mehr als zum Beispiel gegen das verschuldete Griechenland richtet sich die Kritik des Publikums gegen England, das doch immer wieder gemeinsame Beschlüsse torpediere. Die Finanztransaktionssteuer zum Beispiel. Diese „Mehr-Europa“-Stimmung scheint die Frauen auf dem Podium zu überraschen, zumindest freuen sie sich auffällig. Roth-Behrendt als Vertreterin des Parlaments lässt sich im Überschwang sogar zur Aussage hinreißen, manchmal wolle sie „die Mitgliedstaaten in einen Sack packen und mit dem Knüppel draufhauen.“ Regierungsmitglieder, die Amts wegen andere Ansichten haben könnten, sind heute nicht im Saal.

Mehr als die Hälfte der Europäer finden, ihre Stimme zählt nicht genug

Mehr als die Hälfte der Europäer finden laut Umfragen, ihre Stimme zähle nicht genug in Europa. Und auch in Berlin fällt der Begriff „Demokratiedefizit“ häufiger. Ob man den EU-Kommissionspräsidenten denn nicht auch direkt wählen könnte? Und warum konnte das Parlament sich im Streit um die Neubesetzung der Europäischen Zentralbank nicht durchsetzen? Von Resignation ist allerdings wenig zu spüren, viel mehr fordern  mehr als zwei Drittel der Zuhörer: es muss schneller gehen mit den Reformen.

Berlin ist der dritte Bürgerdialog der Kommission. In den Wochen und Monaten zuvor sprach Reding mit Menschen im südspanischen Cadiz und im österreichischen Graz. In den Dialogen zeigen sich exemplarisch die unterschiedlichen Vorstellungen und Sorgen Europas: Im September in Südspanien sorgten sich die Menschen vor allem um Arbeit, um den Fischfang, um die Zukunft ihrer Kinder. Reding wurde hier empfangen wie die Heilsbringerin, sollte Geld aus Strukturfonds lockermachen, die Katalanen von der Abspaltung abhalten und die deutsche Sparwut in die Schranken weisen.

Der Bösewicht: eindeutig Deutschland, dazu viel Wut auf die eigene Regierung. Die Diskussion war viel emotionaler, bei einigen flossen Tränen. Graz – so erzählt es Reding – habe sich vor allem für nationale Fragen interessiert, auf die die EU Einfluss nehmen könnte. Was auch daran gelegen haben mag, dass in Graz der österreichische Vize-Kanzler mit auf dem Podium saß. Und nun also Berlin. Aus der Sicht von Reding bisher der europäischste aller EU-Dialoge. Und der sachlichste.

Zum Schluss steht ein Mann auf und fordert, es solle mehr dieser Dialoge geben. National, regional und lokal auch. Roth-Behrendt will es den Kollegen mitteilen, Redings Lächeln umarmt das Publikum ein letztes Mal.

Elisa Simantke

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