Europäische Union: Freude schöner Rhetorik-Funken
Die Stärke von Kanzlerin Angela Merkel liegt im Handeln, nicht im Reden. Für die EU ist aber beides wichtig. Ein Kommentar.
Wo die Stärken und Schwächen von Kanzlerin Angela Merkel liegen, ließ sich innerhalb von sieben Tagen gut beobachten. Am vergangenen Freitag besprach sie im Kanzleramt wichtige europäische Zukunftsfragen mit Paolo Gentiloni, Mateusz Morawiecki und Theresa May. Im Dialog mit den Regierungschefs aus Italien, Polen und Großbritannien benannte die Kanzlerin präzise, wo die Klippen und Gefahren für die EU in den nächsten Jahren lauern: in der Flüchtlingspolitik, dem drohenden Verlust der Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten, den ungewissen Folgen des Brexit.
Ganz anders Merkels heutiger Auftritt im Bundestag: Im Parlament, wo es auch darum gehen sollte, leidenschaftlich für die Europäische Union zu werben, spulte Merkel eher im Stil einer nüchternen Sachbeschreibung das anstehende Programm des morgigen EU-Gipfels herunter. Dabei hat ihr Vorschlag, EU-Finanzhilfen künftig auch an die Aufnahme von Flüchtlingen zu koppeln, gerade mit Blick auf die störrischen Osteuropäer einige politische Sprengkraft.
Die Kanzlerin wird wohl auch in ihrer voraussichtlich letzten Amtsperiode nicht mehr zu einer großen Rednerin avancieren. Ihre Stärke liegt im Regierungshandeln und im Moderieren. Und diese Fähigkeit ist, beispielsweise im Umgang mit gefährlich abdriftenden Regierungschefs wie dem Ungarn Viktor Orban, in der gegenwärtigen Lage der EU nicht ganz unwichtig.
Die EU braucht Politiker mit Macronschen Qualitäten
Andererseits demonstriert Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, worin die Kraft der öffentlichen Rede besteht: im Wecken von Emotionen, im Erklären, im Mitreißen. Im kommenden Jahr wird in der EU der Bedarf an Politikern, die über Macronsche Qualitäten verfügen, eher zunehmen: Wenn bei der Europawahl im Frühjahr 2019 die Beteiligung nicht ein weiteres Mal sinken soll, dann braucht es Politiker, die einerseits konstruktiv an das europäische Einigungswerk herangehen, aber sich andererseits nicht scheuen, aus den real existierenden Problemen in der EU rhetorische Funken zu schlagen.
Bei der letzten Europawahl im Jahr 2014 erlebten die Bürger ein Duell von zwei Spitzenkandidaten – dem Deutschen Martin Schulz und dem Luxemburger Jean-Claude Juncker –, deren inhaltliche Differenzen nur mit der Lupe zu erkennen waren. Die Europäer haben es verdient, im kommenden Jahr einen spannenderen Wahlkampf zu erleben.
Soziale Ungleichheit - ein Thema für den Europawahlkampf
Für eine mögliche Neuauflage der großen Koalition bedeutet dies, dass die beiden potenziellen Partner ihr jeweiliges europapolitisches Profil noch weiter schärfen müssen. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles sprach in der Bundestagsdebatte von der ungleichen Verteilung des Wohlstands in der EU, die den Zusammenhalt in der Gemeinschaft gefährdet. Damit traf sie einen wichtigen Punkt. Tatsächlich beziehen Europas zahlreiche Populisten von Orban bis zum Chef der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, ihren politischen Treibstoff aus den Abstiegsängsten ihrer Wähler. Auch dies könnte ein Thema für den Europawahlkampf sein – in allen vernachlässigten Regionen der EU.