Aufgelöst, aber einflussreich: „Flügel“-Erfolge könnten die ganze AfD zum Verdachtsfall machen
Trotz Parteiausschlussverfahren wird ein „Flügel“-Mann für den Bundestag aufgestellt. Beobachtet der Verfassungsschutz bald die gesamte Partei?
Wenn bei der AfD Direktkandidaten für die nächste Bundestagswahl aufgestellt werden, erregt das normalerweise wenig Aufmerksamkeit. Doch die Nominierung, die sich am Wochenende in Sachsen-Anhalt ereignete, hat es in sich: Dort wurde der AfD-Politiker Frank Pasemann als Direktkandidat für Magdeburg und Umgebung nominiert – einstimmig. Pasemann gehört zum formal aufgelösten, rechtsextremen „Flügel“ in der AfD, ist ein Verbündeter des rausgeworfenen Brandenburger Landeschefs Andreas Kalbitz. Und vor allem: Gegen Pasemann läuft gerade noch ein Parteiausschlussverfahren.
Die Nominierung Pasemanns ist nicht nur ein eindeutiger Affront gegen den AfD-Bundesvorstand, der das Verfahren vorantreibt. Sie kommt für die Partei auch zu einem ungünstigen Zeitpunkt. In einem Tagesspiegel-Interview vom Sonntag sagte Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang, er beobachte, dass der Einfluss des „Flügels“ in der AfD größer werde, auch wenn die Partei versuche, „klar erkennbare Rechtsextremisten“ wie den früheren „Flügel“-Wortführer Andreas Kalbitz zu entfernen. „Bei parteiinternen Wahlen kommen Anhänger des ,Flügels’ in Schlüsselpositionen“, erklärte Haldenwang. Die Nominierung Pasemanns passt zu dieser Einschätzung.
Mit Pasemanns endgültigem Rauswurf wird gerechnet
In dem Parteiausschlussverfahren gegen Pasemann wird eine Reihe an Vorwürfen erhoben. Es geht unter anderem um eine Spenden-Kasse, die er für den „Flügel“ geführt haben soll. Auch ein Tweet wird angeführt, in dem Pasemann den jüdischen Fernsehmoderator und Publizist Michel Friedman als „Der ewige Friedmann“ bezeichnet hatte, was Assoziationen zum antisemitischen NS-Propagandafilm „Der ewige Jude“ hervorrief. Pasemann behauptet, er habe den Film nicht gekannt und den Tweet nach einem Hinweis darauf gelöscht.
Das Landesschiedsgericht entschied, Pasemann aus der Partei auszuschließen. Das 43-seitige Urteil liegt dem Tagesspiegel vor. Momentan liegt der Fall aber noch beim Bundesschiedsgericht der Partei - weshalb Pasemann offiziell noch Mitglied der AfD ist. Mit seinem endgültigen Rauswurf wird aber gerechnet. Würde er wieder in den Bundestag gewählt, könnte er also nicht Mitglied der AfD-Fraktion sein. Dennoch ist die Nominierung Pasemanns als Direktkandidat ein Erfolg für den „Flügel“.
Für die AfD ist das gefährlich, weil noch immer im Raum steht, dass die Partei vom Verfassungsschutz in Gänze als Verdachtsfall eingestuft werden könnte. Das will das Lager von Parteichef Jörg Meuthen unbedingt verhindern – würde es doch nicht nur die Beamten in der Partei in ernste Bedrängnis bringen, sondern auch bedeuten, dass der Verfassungsschutz die gesamte Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten kann. Je erfolgreicher und einflussreicher der „Flügel“ ist, der sich Ende April auf Druck des Bundesvorstands formal aufgelöst hatte, desto heikler wird die Lage für die AfD.
„Einige sind mutiger, andere warten ab“
Im Verbund der Verfassungsschutzbehörden wird intensiv über die Einstufung der Gesamtpartei AfD als Verdachtsfall diskutiert. Eine einheitliche Meinung gibt es bislang nicht. „Einige sind mutiger, andere warten ab“, heißt es in Sicherheitskreisen. Als ein Indiz, das die AfD der Beobachtung näher bringt, wird der Erfolg des „Flügel“-Mannes Hans-Thomas Tillschneider beim AfD-Landesparteitag in Sachsen-Anhalt im September genannt. Mit 84 Prozent der Stimmen wurde Tillschneider zum Vizevorsitzenden gewählt – obwohl ihn das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) schon in seinem Gutachten vom Januar 2019 als einen der maßgeblichen Aktivisten des „Flügels“ benannt hatte.
In dem Dokument wird Tillschneider mit vielen extremen Äußerungen erwähnt und auf seine Nähe zur rechtsextremen „Identitären Bewegung“ verwiesen. Außerdem stufte das BfV den „Flügel“ im März 2020 als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ ein. Die Mitglieder, die Tillschneider zum Vizechef wählten, hätten genau gewusst, wem sie ihre Stimme geben, betonen Sicherheitskreise.
Intern wurde in der AfD zudem die Wahl des AfD-Bundestagsabgeordneten Jens Kestner zum niedersächsischen Landeschef als Erfolg für den „Flügel“ gewertet, weil Kestner sich gegen die gemäßigtere bisherige Landeschefin Dana Guth durchgesetzt hatte.
In der AfD verdächtigt man sich gegenseitig
Womöglich noch in diesem Jahr, aber spätestens bis März 2021 werde die Entscheidung fallen, ob der Verfassungsschutz die Gesamtpartei AfD als Verdachtsfall bewertet, hieß es in Sicherheitskreisen. Als wichtiges Kriterium wird auch die Kür der Kandidaten für die im kommenden Jahr anstehenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl genannt. „Dann wird man sehen, wie viele Leute vom Flügel sich durchgesetzt haben“, ist aus Sicherheitskreisen zu erfahren.
Und der Verfassungsschutz sammelt über den „Flügel“ auch Informationen aus nicht öffentlich zugänglichen Quellen. Auf die Frage, ob der Verfassungsschutz bei der Beobachtung die gesamte Bandbreite seiner Möglichkeiten ausschöpfe - also vom Sammeln von öffentlich verfügbaren Informationen über Observierungen bis hin zu V-Männern - sagte Haldenwang: „Unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nutzen wir den gesamten Werkzeugkoffer.“
In der Partei ist man davon überzeugt, dass der Verfassungsschutz in der AfD bereits zahlreiche V-Männer angeworben hat. Gegenseitige Verdächtigungen, wer ein „U-Boot“ sein könnte, sind häufiger zu hören. Die Nervosität ist hoch.