CDU-Politiker fordert: Flüchtlinge sollen bei Familien unterkommen
Er weiß, dass seine Idee eine Herausforderung ist. Doch Martin Patzelt ist überzeugt: Es geht nur so. Flüchtlinge sollen bei Familien untergebracht werden. Als Mitbewohner, Gäste, Bekannte. Nicht alle Kollegen lehnen seinen Vorschlag ab. Trotzdem steht der CDU-Mann ganz alleine da.
Da hat vielleicht einer die Lösung für die Flüchtlingsproblematik gefunden, und niemand rührt sich.
An dem Tag, an dem Martin Patzelt findet, dass es genug sei, hat die Stadt Duisburg angekündigt, Flüchtlinge in Zelten einzuquartieren. Ein Flüchtlingscamp wie in der Wüste. So weit soll es kommen? Am 22. August 2014 verfasst der CDU-Mann Patzelt eine Erklärung. Darin ist von einem „Paradigmenwechsel“ die Rede und davon, dass der Wohlstand der Deutschen es ihnen leicht machen sollte, mehr Verantwortung zu übernehmen. Patzelt, 67 Jahre alt, seit 1990 CDU-Mitglied und seit dieser Legislaturperiode Mitglied des Bundestags, schreibt das Folgende: Bürger sollen privat Flüchtlinge bei sich aufnehmen. Denn er glaubt, „dass eine Aufnahme von Gästen organisatorisch und finanziell keine wesentliche Last darstellen würde“. Sein Aufruf schließt mit den Worten: „In jedem Fall werde ich auch meinen Abgeordnetenkollegen diesen Vorschlag zur Diskussion unterbreiten.“
Ein spannender Moment in der Politik. Jemand macht einen nahe liegenden Vorschlag, zur richtigen Zeit – und alle zögern. Einer aus der CDU-Spitze hält den Appell für „grundsätzlich bemerkenswert“. Doch die Bedenken überwiegen. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer, betont, dass ein sympathisches Signal die Probleme nicht löse. „Und das sollten wir den Menschen auch nicht vorgaukeln.“ Einige seiner Fraktionskollegen erklären Patzelt für verrückt. Sie sagen es nicht so direkt, sondern erwähnen nebenbei ihre Wahlkreise und den Ärger, den sie dort wegen seines „Paradigmenwechsels“ bekommen könnten. Der Moment verstreicht. Und dann?
Nöte der Flüchtlingspolitik
Bis Martin Patzelt Wochen später eine zweite Erklärung verbreiten wird, besetzen Asylbewerber in Berlin das Dach eines Hostels, harren dort 13 Tage aus; korrigieren die Bundesbehörden ihre Flüchtlingsprognose nach oben, 200 000 Personen werden erwartet, ein Viertel mehr als im Vorjahr. Der in Berlin zuständige Senator Mario Czaja will der absehbaren Platznot mit Container-Siedlungen begegnen. In Potsdam denken sie auch an Zelte. Der Bundesrat verschärft das Asylgesetz, indem die Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer eingestuft werden. Zuletzt werden im siegerländischen Burbach die Nöte der Flüchtlingspolitik offenbar, als Bewohner einer Sammelunterkunft durch Wachpersonal misshandelt werden.
Dabei sähe die Lösung vielleicht ganz einfach aus.
An einem regnerischen Spätsommertag lehnt der CDU-Mann und Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt an einem mit weißem Tuch umwickelten Stehtisch und hört der Band einer Sonderschule zu. "Muss nur kurz die Welt retten", singt ein Junge mit rauer Stimme und dicken Brillengläsern energisch ins Mikrophon. Patzelt hat vielen solcher Jungs, die es schwer haben, sich nicht selbst im Weg zu stehen, ins Leben geholfen. Er war jahrelang Leiter eines Kinderheims. Damals gab es die DDR noch. Bei dem Empfang in Frankfurt (Oder), seinem Wahlkreis, begrüßt man ihn vor allem als früheren Oberbürgermeister der Stadt, der jetzt für die großen Dinge zuständig ist, Bundespolitik. Also nicht direkt für Schüler und ihre Unterkünfte. Das Gespräch kommt auf ein altes Gebäude in der Innenstadt, das zu marode ist, um es nicht abzureißen.
"Oh, ja, der Klotz", sagt Patzelt. "Steht mitten im Zentrum, prägt das Stadtbild, meine größte Sorge als OB war, keine Verwendung mehr dafür zu haben."
Jetzt ist es soweit. Der Stadt fehlt für den Abriss das Geld.
"Ich habe da eine Idee", sagt Patzelt und wartet einen Moment, bis die, die um den Tisch stehen, hellhörig werden. "Flüchtlinge", sagt er dann, die Wirkung des Wortes taxierend. "Natürlich wäre es für den OB außerordentlich mutig, Bürgerkriegsflüchtlinge mitten in der Stadt unterzubringen. Er würde damit etwas gegen das demografische Problem Frankfurts tun."
Die um ihn herum, Sozialarbeiter, wie er auch einmal einer war, Mitarbeiter karitativer Einrichtungen und Lehrer, nicken wie Leute, die das gottseidank nicht entscheiden müssen.
So geschieht es in letzter Zeit oft. Und Patzelt hat die Angst, so sagt er einmal, dass die große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen zunichte gemacht würde, weil die - in überfüllte Sammelquartieren gepfercht - einen Koller bekämen und ausrasteten. Mit Knete werde man nicht alles regeln.
Das ist das Credo eines Mannes, der von sich sagt, er habe ein luxuriöses Leben geführt. Und dieser Reichtum blitzt auch irgendwie aus seinen Augen, die sich mit zunehmender Freude über seinen Reichtum immer weiter verengen. Geld ist es nicht: "Ich lasse mich vom Leben verführen." Das ist ein riskanter Satz für einen Politiker. Aber Patzelt meint, dass er nicht da wäre, wo er jetzt stünde, wenn er nicht auf das Leben gehört hätte. Seinem Vorschlag ging eine persönliche Erfahrung voraus.
Er erzählt davon auf einem der schwarzen, tiefen Ledersofas, die in den Gängen des Reichstagsgebäudes stehen. Hinter ihm an der Wand sind die Kritzeleien der Rotarmisten zu sehen, die bis hierher vordringen mussten, um den Krieg zu beenden. Millionen Menschen flohen, wurden aus ihrer Heimat vertrieben. In Patzelts Familie ist das Wissen darum bis heute präsent. In seinem Haus in Briesen, eine Autostunde östlich von Berlin, hat der Politiker schon oft jungen Ausländern ein Heim gegeben. Es ist ein Mehrgenerationenhaus, in dem er mit zwei seiner fünf erwachsenen Kinder lebt, mit Enkeln und Neffen. Im Frühjahr dieses Jahres nahm er zwei Frauen aus Nigeria auf.
Allein unter Männern
Mit zwei Säuglingen und einem Kleinkind waren die am Oranienplatz in Kreuzberg angekommen, wo Flüchtlinge ein Protestcamp errichtet hatten. In einer Behelfsunterkunft der Caritas waren sie allein unter Männern. Als Patzelt davon erfuhr, holte er die Frauen zu sich, tat es vor allem den Kindern zuliebe. Es war kalt. „Kinder“, sagt er, „können nichts für die Entscheidungen ihrer Eltern. Sie leben schlecht im Wartezimmer.“
Die Frauen blieben zwei Tage, dann wollten sie wieder weg. Patzelt sagt, das habe ihn auch sehr erstaunt. „Eine für beide Seiten wertvolle Erfahrung.“ Die Nigerianerinnen bewohnten bei ihm drei Zimmer mit einer eigenen Kochgelegenheit. Doch auf dem Land habe den beiden der Anschluss gefehlt, sie wollten zu ihren Leuten zurück, wie Patzelt sagt. In einer Gruppe waren sie von Italien aus nach Berlin aufgebrochen, jede von ihnen, so berichteten sie, sei mit 500 Euro in den Bus gestiegen, der sie zum Oranienplatz gefahren habe. Dort hatten sie Solidarität erfahren.
Es hat ihn nicht abgeschreckt. Patzelt ist überzeugt: Es geht nur so. Er weiß, dass seine Idee eine Herausforderung ist.
In seiner Kindheit gab es nie genug. Trotzdem reichte es. Das prägt ihn
Er erhält jetzt viele E-Mails, aus denen Besorgnis klingt. Ein Mann fragte ihn, ob sein Vorschlag nicht ein bisschen viel verlangt sei: Komm’ ich nach Hause, ist die Frau vergewaltigt. „Jemandem, der in ständiger Angst lebt“, sagt Patzelt, „soll man die Aufnahme eines Fremden nicht zumuten.“ Auch die Flüchtlinge dürften nicht Opfer einer übereifrigen Hilfsbereitschaft werden, sagt er. Oder schlimmer: Opfer privater Abhängigkeiten, die im Zusammenleben entstehen können.
Doch erklärt das die politische Zurückhaltung? Flüchtlinge im eigenen Haus, in der eigenen Wohnung? Ist die Idee wirklich so abwegig?
Immer wieder haben auch einige aus dem Unterstützerkreis der Oranienplatz-Flüchtlinge Personen vorübergehend bei sich wohnen lassen. Nachdem die die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg räumen mussten oder weil die zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber plötzlich mehrere Tage geschlossen war. Weil den Betroffenen sonst Obdachlosigkeit drohte. Das sei okay gewesen, aber: „Wer hilft, muss denjenigen auch durchfüttern“, sagt eine Aktivistin. „Dadurch entsteht ein Gefälle, das den Stolz der Männer verletzt.“ Unterstützer der Flüchtlinge, auch Linke und Grüne, betonen, der Staat dürfe nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden.
Sechs Wochen Aufnahmeeinrichtung
Nach dem Asylverfahrensgesetz sind Antragsteller verpflichtet, die ersten sechs Wochen in einer Aufnahmeeinrichtung zu verbringen. Um erreichbar zu sein für die Behörden. Spätestens nach drei Monaten sollen sie „in der Regel“ in Gemeinschaftsunterkünften und Wohnheimen bleiben. Sie müssen nicht. Sie könnten auch in eigenen Wohnungen unterkommen.
Doch Wohnraum wird in Berlin immer knapper. Seit diesem Frühjahr fungiert das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk EJF, das die Verteilung von Flüchtlingen auf Wohnungen im Stadtgebiet übernimmt, als Schaltstelle. Es hat Mühe, von den Wohnungsbaugesellschaften des Landes die zugesicherten Räumlichkeiten zu erhalten. 250 Wohnungen sollen es pro Jahr sein. Gerade habe man die Laufnummer 248 vergeben, sagt eine Mitarbeiterin. Doch dem stehen 550 Bewerbungen für einen Ein-Personen-Haushalt sowie 200 für Zwei-Personen-Haushalte gegenüber. Und dann sind da noch etwa 30 Anträge von achtköpfigen Familien. Zwar melden sich beim EJF durchaus Vermieter, die Wohnraum anbieten. Aber 1300 Euro Kaltmiete – das deckt sich nicht mit dem, was das Sozialamt übernimmt. Die Suche müsste auf eine breitere Basis gestellt werden.
Martin Patzelt flüstert beinahe, als er sagt: „Ich muss aufpassen, dass ich nicht als wunderlicher Kauz erscheine.“ In seiner sitzungsfreien Woche ist er nach Neuberesinchen gereist, um im Jugendzentrum „Ragbag“ an einer Stadtteilkonferenz teilzunehmen. Offiziell geht es um die Kinderarmut, die in der weitgehend eingeebneten Frankfurter Plattenbausiedlung besonders hoch ist. Patzelt hat Zahlen mitgebracht, doch dann kommt er ins Plaudern, ein charmanter Erzähler ist er, der den Zuhörern von seinen Anpassungsschwierigkeiten im Bundestag berichtet. Und davon, als siebtes von 14 Kindern aufgewachsen zu sein. Nie gab es genug, trotzdem reichte es. Und schon wieder ist er am Kern des Problems angelangt – oder seiner Lösung, wie man will.
Eine "Beziehung auf Zeit"
„Wir Deutschen sind noch gar nicht Eigentümer unseres Wohlstandes geworden“, sagt er. „Wir fürchten, dass er uns verloren geht. Doch Wohlstand erwächst aus der Art, wie wir miteinander leben. Diktaturen verarmen.“ Mit dieser Einstellung geht einer durchs Leben, der in Halle nicht studieren durfte, was er wollte, weil er den Dienst in der Volksarmee verweigerte, der dann kirchlicher Fürsorger wurde und nach der Wende als Sozialreferent von Job zu Job empfohlen wurde. Als er 2002 in seiner Geburtsstadt das Amt des Oberbürgermeisters erkämpfte, kam das dem CDU-Landesvorsitzenden Schönbohm als „Wunder an der Oder“ vor. Nach acht Jahren auf dem Posten durfte er nicht wieder antreten, denn er war 62. Ein bisschen früh fand er.
Martin Patzelts Lieblingswort ist: Kompetenztransfer. Er erzählt von einem wiederkehrenden Traum, in dem „der Lahme den Blinden führt, eine Art Bedürfniskoppelung“. So stellt er sich auch die private Unterbringung von Flüchtlingen vor. Als eine „Beziehung auf Zeit“, die einer Gastfamilie ebenso viel bringt, wie sie dem Flüchtling zu einer Normalität verhilft. Im Idealfall.
Ein wichtiger Kirchenmann habe ihm erzählt, berichtet Martin Patzelt, wie sehr ihn dieser Vorschlag in Bedrängnis bringe. Er lebe in einer Villa mit etlichen ungenutzten Räumen, könne sich die Versorgung von Gästen leisten. Aber, so habe er sich eingestehen müssen, Flüchtlinge bei sich zu Hause wohnen zu lassen, Verantwortung für sie zu übernehmen, das schaffe er nicht. Dieselben Skrupel vermutet Patzelt bei seinen Parteikollegen. „Sie können von den Menschen nur verlangen, was sie selbst umzusetzen bereit sind. Das trauen sich viele nicht zu. Obwohl sie die Voraussetzungen hätten. Ein leeres Kinderzimmer. Eine ungenutzte Einliegerwohnung.“
Seine Idee ist ein Charaktertest. Eine Belastungsprobe für die eigene moralische Integrität. Deshalb ist es so still um ihn. Wie viel Verantwortung, das muss sich jeder fragen, ist er bereit zu übernehmen? Die Antwort darauf fällt bei den meisten nicht so aus, wie sie sich das selbst wünschen.
Das Ganze ist so etwas wie ein Test. Eine Probe für die eigene Integrität
Dabei geht es für CDU-Mitglieder um den geistigen Kern ihrer Partei. Sie müssten die Flüchtlinge nur als Vertriebene behandeln.
Die waren auch einst Fremde in dem Land, das sie aufzunehmen verpflichtet hatte. Sie waren vor Unrecht geflohen. Vor der Gewalt ihrer Nachbarn, die es auf ihr Eigentum abgesehen hatten oder die sie als Kriegstreiber nicht mehr unter sich dulden wollten. Und als Bundeskanzler Helmut Kohl 1995 auf die kollektiven Anstrengungen der Eingliederung zurückblickte, da meinte er: "Es gab Hilfsbereitschaft; das ist wahr. Es gab viele Zeichen von selbstlosem Einsatz bei den Einheimischen. Aber es gab auch viel Misstrauen, Gleichgültigkeit und Ablehnung. So sahen sich die, die alles verloren hatten, in der neuen Heimat, die für viele lange Zeit die Fremde blieb, als sozial Deklassierte." Kohl wunderte sich damals, warum sich die Neuankömmlinge in dieser Lage nicht radikalisiert hatten.
In Erinnerung geblieben ist Kohls Bundestagsrede wegen des Satzes: "Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten."
Das müsse man ihr nicht sagen, erklärt Erika Steinbach, jahrelange Vorsitzende der Vertriebenenverbände und wie Patzelt Mitglied des Menschenrechtsausschusses. Der Vorschlag ihres Kollegen ist für sie eine "gute Idee". Allerdings bestehe "kein Regelungsbedarf seitens des Bundes". Einerseits weil die Handhabe der Asylgesetze Sache der Länder ist. Andererseits: "Wir wissen, dass es geht", wie Steinbach sagt.
Das ist daraus geworden, mit den Abgeordnetenkollegen ....
In der dunklen Holztür im vierten Stock eines alten Pankower Mehrparteienhauses steht Renate Wegener in einem grauen Wollkleid, der Blick prüfend und verbindlich. Vor einiger Zeit hat sie diese Drei-Zimmer-Wohnung gekauft, sie erschien ihr nun groß genug, um einen Fremden darin aufzunehmen. Der ist im Alter ihrer Töchter, 21, hat schwarze Haare und einen schmalen Kinnbart. Immanuel, dessen richtiger Name nicht in der Zeitung stehen soll, sitzt mit an dem runden Esstisch in der Wohnküche.
Von den Flüchtlingen, die Renate Wegener kennenlernte, bevor sie sich entschied, war der schüchtern-höfliche Iraner derjenige, mit dem es am besten klappen könnte, fand sie. Immanuel ist im Süden des Iran geboren, er zählt zu den etwa 11 000 Flüchtlingen, die derzeit in Berlin als Asylbewerber registriert sind, 100 bis 150 Iraner kommen jedes Jahr hinzu. Bevor er bei Renate Wegener einzog, wohnte er in einer Notunterkunft in Moabit, einem von 46 Heimen im Stadtgebiet. Als Immanuel es verlassen durfte, machte er zur Erinnerung einen kurzen Film. Damit man ihm später glauben würde, wie er über Monate lebte.
„Wollen Sie das Zimmer sehen?“, fragt er und hält sein Smartphone hoch. Auf dem Bildschirm sind verwackelte Bilder einer türlosen Nische zu sehen, in die gerade eben ein Bett passt. Immanuel konnte nur über das Fußende einsteigen, zu beiden Seiten Wand. Das große Fenster an einer Seite des Raumes ließ sich nicht verdunkeln, im Winter war es kalt, der Wind pfiff durch die Ritzen.
"Eine kleine, stille solidarische Geste"
Renate Wegener kennt sich mit dem Asylverfahren nicht genau aus. Als Programmiererin und dreifache Mutter von mittlerweile erwachsenen Töchtern hat sie sich mit dem Thema nicht näher befasst. Sie saß nur auch in dem Pankower Nachbarschaftsheim, in dem sich eine Bürgerinitiative um die Begrüßung der ersten Flüchtlinge bemühte, und kümmerte sich später in ihrer knappen Freizeit um eine tschetschenische Familie. Dabei bekam sie einen Stoß Formulare in die Hände, unter ihnen auch der Vertrag für ein Untermietverhältnis für einen Flüchtling. Das geht? Sie stutzte.
Warum Sie das machen wolle, fragte die Heimleiterin.
Renate Wegener sagt, sie sei ein moralischer, ein politisch denkender Mensch. „Das ist eine kleine, stille solidarische Geste.“
Ihre Wohngemeinschaft ist in Berlin die absolute Ausnahme. Beim EJF hat es nur zwei seriöse Angebote für eine private Aufnahme gegeben.
Mit Immanuel wurde ein Untermietvertrag aufgesetzt. Die Heimleiterin versicherte Renate Wegener, dass er bei einer Kündigung nicht zurück in eine Sammelunterkunft müsse. „Er braucht mir nicht dankbar zu sein“, sagt Wegener, „ich bekomme ja etwas dafür.“ Das Sozialamt bezahlt die Miete für sein Zimmer pünktlich. Aber auch sonst sei ihr Leben interessanter geworden, findet sie. Immanuel hat schnell Deutsch gelernt. Nun öffnet sich Renate Wegener in Gesprächen mit ihm etwa die Welt der so genannten Hauskirchen im Iran. In dem Mullah-Staat treffen sich Christen in privaten, konspirativen Zirkeln. Fliegt einer auf, müssen sie fliehen, vor Folter und Erpressung. Immanuel hätte sein Studium begonnen.
Auftakt zu einer Zimmerbörse
Erst in zwei bis drei Jahren, wenn sein Asylverfahren abgeschlossen ist, wird der junge Mann, der sich in Berlin hat taufen lassen, seinen Lebensfaden wieder aufnehmen können. Ein Ingenieurstudium schwebt ihm vor. Trotzdem ist er glücklich, ja selig bei Renate Wegener. Er macht ein Bundesfreiwilligenjahr, arbeitet in einer Grundschule, geht in einen Chor. Sein Fertigessen steht im Kühlschrank neben den Zutaten, die sie für ihre Mahlzeiten verwendet. Am Wochenende kocht sie. Und wenn er etwas repariert, gibt es als Dank ein Essen von ihr.
Neulich durchforsteten sie gemeinsam das Pergamonmuseum nach persischen Strukturen und Formen. „Für mich ist das ein Experiment“, sagt Wegener, „Ich beobachte einen spannenden Prozess.“ Und zu Immanuel gewandt: „Du bist Teil eines derzeit interessantesten Problems des gesellschaftlichen Umbaus.“ Er sagt: „Deutschland hat mich gerettet.“
In seiner zweiten Erklärung schrieb Martin Patzelt: „Meinem Anliegen konnten sich die Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe Menschenrechte mehrheitlich nicht anschließen.“ Sein Büro aber, verspricht er, werde potentiellen Gastgebern weiterhelfen. Das klingt wie der Auftakt zu einer Zimmerbörse.
Dieser Text erschien auf der Reportageseite.