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Angriffe trotz Feuerpause. Kinder haben vor allem Angst vor Bombenangriffen. Trotz der Waffenruhe gibt es immer wieder verheerende Luftschläge wie hier in Douma.
© Sameer al Doumy/AFP

Kriegsopfer: Millionen Kinder in Syrien leiden unter psychischen Problemen

Immer in Angst: Eine Studie der Hilfsorganisation Save the Children zeigt: Der Krieg hat katastrophale Auswirkungen auf die Psyche syrischer Kinder.

Zum Beispiel Saeed. Gerade mal drei Jahre ist der syrische Junge alt. Er haust mit der Familie in den Überresten einer Tankstelle. Dorthin sind sie vor dem „Islamischen Staat“ geflohen. Das war vor zwei Jahren. Seitdem ist ihr Leben ärmlich, es fehlt an allem. Und Vater Firas macht sich große Sorgen um seinen Sohn. Nicht nur wegen der Not. „Saeed wacht oft mitten in der Nacht völlig verängstigt und schreiend auf. Manchmal rennt er auf die Straße hinaus. Er hat wegen des Kriegs und der Luftangriffe Alpträume. Ein Kind wurde vor seinen Augen abgeschlachtet. Jetzt träumt er, dass jemand kommt, um ihn auf dieselbe Weise umzubringen.“

Von den Ängsten seines Sohnes hat Firas vor einigen Wochen den Mitarbeitern der Hilfsorganisation Save the Children erzählt. Die Worte zeigen: Saeeds Seele leidet, sie ist verwundet. Der Junge ist traumatisiert. Es geht ihm ebenso wie Millionen syrischen Kindern: Ihre Psyche hat Schaden genommen. Weil Krieg herrscht.

Ein Team von Save the Children hat Anfang des Jahres mehr als 450 Kinder, Jugendliche und Erwachsene in sieben syrischen Regierungsbezirken über ihr Wohlergehen befragt. Jetzt hat die Organisation einen Bericht mit den Ergebnissen der Studie veröffentlicht. Das Fazit fällt erschreckend aus. Millionen Heranwachsende leiden an erheblichen psychosomatischen Beschwerden.

Toxischer Stress

Angst spielt als Ursache eine zentrale Rolle. Sie ist alltäglich geworden. Angst vor Bomben. Angst, die Familie zu verlieren. Angst, nicht genug Essen zu bekommen. Angst, die Schule zu versäumen. All das belastet Syriens Kinder auf dramatische Art und Weise.

Denn viele Mädchen und Jungen sind wegen der allgegenwärtigen Gewalt dauerhaft „toxischem Stress“ ausgesetzt. Das heißt, über lange Zeit werden große Mengen an Stresshormonen ausgeschüttet. Sie führen zu seelischen Wunden, die auch körperliche Probleme zur Folge haben und die Entwicklung hemmen. Dazu gehören ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen oder Diabetes, aber auch Drogenmissbrauch, Depressionen und Suizidversuche.

Vater Firas macht sich große Sorgen: Sein Sohn Saeed (r.) hat immer Alpträume. Die Familie lebt seit zwei Jahren in den Überresten einer Tankstelle.
Vater Firas macht sich große Sorgen: Sein Sohn Saeed (r.) hat immer Alpträume. Die Familie lebt seit zwei Jahren in den Überresten einer Tankstelle.
© Save the Children

Das liegt nicht zuletzt daran, dass es weder ausreichende Betreuung gibt noch soziale Strukturen, die bei der Bewältigung der schrecklichen Erlebnisse helfen können. Seit sechs Jahren wissen syrische Kinder nicht, ob sie den nächsten Tag noch erleben. Sie werden bombardiert und systematisch ausgehungert. Mussten zusehen, wie Freunde und Familienmitglieder vor ihren Augen getötet, Schulen und Krankenhäuser zerstört wurden. Man hat ihnen Lebensmittel ebenso wie Medizin vorenthalten. Und Millionen haben ihre Heimat aufgeben müssen. Experten sprechen von einer verlorenen Generation.

Als besonders bedrückend empfinden Eltern und Kinder die mangelnden Bildungsmöglichkeiten. Nach den Recherchen von Save the Children geht fast ein Drittel der Mädchen und Jungen (1,75 Millionen) nicht mehr zur Schule. Zum einen, weil sie arbeiten müssen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Zum anderen, weil eine Klasse schon lange kein Schutzraum mehr ist.

4000 Angriffe auf Schulen

Seit Kriegsbeginn hat es mehr als 4000 Angriffe auf Schulen gegeben. Viele Gebäude können nicht mehr für den Unterricht genutzt werden, weil sie beschädigt sind, Geflüchteten als Unterkunft dienen und in Militärstützpunkte umfunktioniert wurden. Außerdem sind abertausende Lehrer ums Leben gekommen oder haben das Land verlassen.

Selbst in Gebieten mit geöffneten Schulen ist ein normaler Betrieb kaum denkbar. Viele Kinder bleiben zuhause, weil ihre Eltern Angriffe auf die Gebäude fürchten. Doch ohne Bildung bleibt die Armut ein ständiger Begleiter. Laut Schätzungen der UN beläuft sich der wirtschaftliche Verlust aufgrund des Schulabbruchs schon heute auf elf Milliarden US-Dollar.

Besonders dramatisch ist die Situation für Kinder in belagerten Gebieten. Bis zu 700.000 Syrer können gar nicht oder nur sehr selten mit Lebensnotwendigem versorgt werden. Auch das wirkt sich katastrophal auf die Psyche der Kinder aus. Sie haben schlicht Angst zu verhungern. Die Not ist so groß, dass sich Kinder sogar den Tod wünschen.

Hoffen auf die Scharfschützen

In dem Bericht von Save the Children heißt es etwa mit Blick auf den abgeriegelten Ort Madaya: „Die Kinder wünschen sich, sie wären tot und würden in den Himmel kommen, um endlich nicht mehr zu frieren und stattdessen essen und spielen zu können. Sie wünschen sich, von einem Scharfschützen getroffen zu werden. Denn wenn sie verletzt wären, würden sie ins Krankenhaus gebracht und endlich genug zu essen erhalten.“

Der Report über die „unsichtbaren Wunden“ der syrischen Kinder spart nicht mit drastischen Worten und Beispielen. Denn für Save the Children steht fest: Die psychischen Probleme schädigen die Kinder langfristig. Und mit jedem Tag schwinden die Chancen, dass sie sich von Stress und Traumata erholen können. Deshalb sei es so wichtig, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung sofort einzustellen und das humanitäre Völkerrecht zu achten. Nur: Danach sieht es auch am sechsten Jahrestag des Krieges nicht aus.

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