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Von Todesangst gezeichnet. Dieses Foto aus dem Damaszener Stadtviertel Yarmouk wurde von den Vereinten Nationen verbreitet – als Appell an die Welt.
© UNWRA/AFP

Drei Jahre Bürgerkrieg in Syrien: "Hunger sollte nie zu einer Waffe werden"

Es gibt immer doch noch Schlimmeres - und Syrien ist das Schlimmste. Das sagt der Nothilfe-Koordinator des Welternährungsprogramms für Syrien, Muhannad Hadi, im Tagesspiegel-Interview.

Herr Hadi, seit drei Jahren herrscht in Syrien Bürgerkrieg. Wie dramatisch ist die Lage für die Menschen?
Die Situation ist sehr, sehr traurig. Das Syrien, wie ich es als Regionaldirektor des Welternährungsprogramms vor der Katastrophe kannte, existiert nicht mehr.

Die UN sprechen von einer humanitären Katastrophe. Was heißt das konkret?
Innerhalb des Landes sind mehr als sechs Millionen Menschen dringend auf humanitäre Hilfe und Lebensmittellieferungen angewiesen. Sie haben aufgrund des Krieges alles verloren: ihre Arbeit, ihre Heimat und oft genug Familienmitglieder. Außerdem ist die Infrastruktur weitgehend zerstört. Und etwa 2,5 Millionen Menschen sind als Flüchtlinge in den Nachbarstaaten registriert. Vermutlich haben aber noch viel mehr Syrer die Grenzen überquert. Insgesamt benötigen in der Region annähernd zehn Millionen Menschen Hilfe.

Haben Sie schon Vergleichbares erlebt?
Ich arbeite jetzt schon seit 20 Jahren für das Welternährungsprogramm. Jede Krise für sich ist einmalig. Wenn man glaubt, alles Schlimme bereits gesehen zu haben, dann gibt es immer doch noch Schlimmeres. Und Syrien ist das Schlimmste.

Wie kann den Menschen unter Kriegsbedingungen geholfen werden?
Wir haben einige Logistikzentren innerhalb Syriens eingerichtet. Dort sammelt man die Lebensmittel, die sowohl über den Landweg aus dem Libanon und Jordanien als auch von syrischen Mittelmeerhäfen aus angeliefert werden. Dann packen wir Pakete mit Zucker, Salz, Öl, Reis, Weizen und Konserven. Soviel, dass eine fünfköpfige Familie einem Monat lang einigermaßen über die Runden kommt. Schließlich werden die Pakete auf Fahrzeuge verladen, die wiederum versuchen, die Menschen zu erreichen. Und das ist schwer genug.

Muhannad Hadi
Muhannad Hadi
© WFP

Inwiefern?

Auf dem Weg von Damaskus nach Aleppo, das sind 360 Kilometer, müssen wir bis zu 40 Checkpoints passieren. Mal wird man von der syrischen Regierung kontrolliert, mal von der Opposition oder Terroristen. Und immer wieder müssen wir erklären, dass unser Anliegen allein humanitär ist. Wenn wir Glück haben, lässt man uns passieren. Wenn nicht, müssen die Fahrer wieder umkehren und es am nächsten Tag erneut versuchen.

Es heißt, in den vergangenen Wochen sei es etwas einfacher geworden, die Notleidenden zu erreichen. Ist das auch Ihr Eindruck?
Ja, in jüngster Zeit konnten Mitarbeiter des Welternährungsprogramms tatsächlich in einigen Regionen helfen, die zum Teil seit drei Jahren nicht zugänglich waren. In diesen Gegenden war zuvor eine Waffenruhe vereinbart worden. Doch wenn nach vielen Monaten ein Konvoi es endlich mal schafft, zu den Menschen vorzudringen, dann ist das sicherlich nicht mal ansatzweise die Lösung des Problems.

Wird Hunger als Waffe eingesetzt?
Hunger sollte nie zu einer Waffe werden. Aber als Helfer ist man leider oft mit den Folgen einer gescheiterten Politik konfrontiert. Wir können das Ausmaß des Hungers und der Todesfälle in uns unzugänglichen Regionen nur schätzen. Dass dies so ist, liegt an allen Konfliktparteien.

Wäre ein humanitärer Korridor sinnvoll, um die Bedürftigen zu versorgen?
Das Welternährungsprogramm verhandelt ständig mit allen Konfliktparteien über einen uneingeschränkten Zugang zu allen Zivilisten. Und wir weisen die Kämpfer immer wieder daraufhin, dass dies im Völkerrecht so festgeschrieben ist. Die neue UN-Resolution, die genau das fordert, ist da schon hilfreich. Aber das heißt nicht, dass wir quasi über Nacht plötzlich überall Zutritt haben.

Was benötigt die Zivilbevölkerung am dringendsten?
Sicherheit! Viele Familien wurden schon sehr oft vertrieben. Sie irren von einem Zufluchtsort zum nächsten. Diese Menschen haben einfach nichts mehr. In Aleppo traf ich eine Mutter, die ihr Vertreibungsschicksal so beschrieb: „Es ist ein  Alptraum. Du versucht, einer Sache zu entkommen, die viel schneller ist, als du selbst. Und mit jedem Schritt, den du machst, verlierst du weiter Kraft.“ Das hat sie mir im Januar erzählt. Danach gab es wieder heftige Kämpfe, die Mutter und tausende andere Menschen mussten erneut fliehen. Wo sie jetzt sind, wissen wir nicht.

Nothilfe kostet viel Geld. Fühlen sich die UN ausreichend von der Weltgemeinschaft unterstützt?
Das Welternährungsprogramm benötigt etwa 40 Millionen Dollar pro Woche, um die vom Konflikt betroffenen Menschen in Syrien mit Lebensmitteln versorgen zu können. Das mag nach viel Geld klingen. Aber man kann es auch so sehen: Ein Dollar – so viel kostet eine Tasse Kaffee – reicht aus, um einen Syrer oder eine Syrerin einen Tag zu ernähren.

Dennoch halten sich viele Staaten als Geldgeber auffallend zurück, oder?
Zunächst einmal sind wir dankbar für die Unterstützung durch großzügige Spender, zu denen Deutschland sicherlich gehört. Aber jeder muss auch verstehen, dass Syriens Mütter nicht einfach eine Woche auf Lebensmittel warten können, um ihre Kinder zu ernähren. Es gibt keine Reserven mehr. Und wenn wir heute einen Dollar als Spende erhalten, dauert es noch vier bis sechs Wochen, bis die Hilfe in Form von Nahrung die Menschen erreicht.

Wie kann man den UN-Mitgliedern klar machen, dass ihre Hilfe dringend gebraucht wird?
Wir haben es mit einer internationalen Krise zu tun. Sie betrifft nicht allein Syrien und die Region, sondern vermutlich die ganze Welt. Jeder steht daher in der Verantwortung, den Notleidenden zu helfen. Niemand kann diese Krise ignorieren.

Muhannad Hadi (48) ist Nothilfekoordinator des Welternährungsprogramms für die Syrienkrise. Der Jordanier arbeitet seit mehr als 20 Jahren für die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen. Das Gespräch führte Christian Böhme.

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