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Ihnen gehört jetzt das Land - ein Taliban im Sonnenuntergang
© Karim Sahib, AFP

Strategie an den Taliban vorbei: Finanzielle Hilfen für Afghanistan müssen drei Kriterien erfüllen

Nach Abzug der Soldaten wird beteuert, Afghanistan nicht im Stich lassen zu wollen. Derweil driftet das Land in eine islamistische Anarchie ab. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wer Soldaten in ein fremdes Land schickt, muss wissen, unter welchen Bedingungen sie wieder abgezogen werden können. Wer Truppen aus einem Land abzieht, muss wissen, welche Zustände er hinterlässt. Beide Regeln wurden im Fall Afghanistan sträflich missachtet. Das rächt sich nun.

Die radikalislamischen Taliban entmachten und die Terrororganisation Al Qaida vertreiben, das ging schnell. Doch an der größeren Aufgabe, die anschließend auf den Westen wartete, scheiterte die so oft zitierte Wertegemeinschaft. Demokratie, Frauenrechte, Wiederaufbau, stabile staatliche Strukturen: Dafür reichten weder Wille noch Ausdauer. Wie fragil die Lage selbst nach zwanzig Jahren war, verdeutlichte die erneute Machtübernahme der Taliban. Als wäre nichts gewesen.

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Jetzt soll die Schmach mit einer Reihe von Zusicherungen überdeckt werden. Die Afghanen würden nicht im Stich gelassen, wird beteuert. In Genf wurde eine Hilfskonferenz der Vereinten Nationen einberufen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas sprach von einer klaren Botschaft, dass weiter geholfen würde. Aber wie, durch wen und wie lange? Solche Fragen erzeugen tiefe Ratlosigkeit. Denn die guten Absichten könnten an einer Realität zerbrechen, die blutig und brutal ist.

Bald setzt der Winter ein, es drohen Kälte und Hunger

Afghanistan ist eines der ärmsten Länder. Die Wirtschaft steht vor dem Zusammenbruch. Fünf Millionen Menschen sind bereits geflohen, die meisten nach Pakistan, viele in den Iran. Direkte finanzielle Überweisungen an die Taliban scheiden aus. Doch insbesondere Lehrer und Ärzte sind auf solche Zahlungen angewiesen. Es fehlt an Medikamenten und Nahrungsmitteln. Eine Dürre hat die Ernte vernichtet. Ungehindert kursiert die Corona-Pandemie. Bald setzt der Winter ein, es drohen Kälte und Hunger.

Als wäre all das nicht bitter genug, zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Taliban kein bisschen moderat geworden sind. Afghanische Journalisten und Frauenrechtlerinnen werden verprügelt. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, berichtet, dass ehemalige Mitglieder der Sicherheitskräfte reihenweise ermordet werden. Gnade wird keine gewährt.

Die Not schreit laut nach einem Retter. Doch den gibt es nicht. Die US-Regierung unter Joe Biden, die das Elend maßgeblich durch die Modalitäten ihres Rückzugs verursacht hat, wendet sich anderen Themen zu. Afghanistans Nachbarn – Pakistan, Iran, China, die drei zentralasiatischen Republiken – sehen sich nicht in der Verantwortung. Die Vereinten Nationen sind mit der Aufgabe ebenso überfordert wie die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Nichtstun ist keine Option

Dabei kennt jeder die Gefahren, die ein Abgleiten des Landes in eine Art islamistische Anarchie zur Folge hat. Da ist zum einen das Wirken einer fundamentalistischen Zentrifugalkraft, die zu einem Export militanter Strömungen führt, die unter der Taliban-Herrschaft ohnehin gut gedeihen. Da ist zum anderen die Perspektivlosigkeit Zehntausender, die sich als Flüchtlinge auf den Weg machen könnten in der Hoffnung, etwas Besseres als Afghanistan überall zu finden.

Wenn in dieser Lage Nichtstun keine Option ist, die Taliban aber finanziell nicht unterstützt werden dürfen, muss jede Form der Hilfe an drei Kriterien geknüpft sein. Erstens dürfen zur Linderung der Not ausschließlich Waren geschickt werden, keine Gelder. Zweitens haben direkte Zahlungen, etwa an Lehrer und Ärzte, über humanitäre Organisationen zu erfolgen, solange sie im Land arbeiten können. Drittens müssen die Nachbarstaaten Afghanistans in die Lage versetzt werden, Flüchtlinge aufzunehmen. Keiner weiß, ob diese Strategie Erfolg hat. Sie resultiert allein aus einer fast ausweglosen Situation.

Der Westen hat die Menschen in Afghanistan zwanzig Jahre lang mit Freiheiten vertraut gemacht, die ihnen unvertraut waren. Er hat in sie den Keim der Selbstbestimmung gelegt. Das verpflichtet über jedes Abzugsdatum hinaus.

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