Willkür bei der Inzidenz?: Fast alle Gesundheitsämter können mit Werten über 50 arbeiten
Alles über einer 50er-Inzidenz führt zum Domino-Effekt, sagt die Politik. Die Behörden könnten Infektionsketten nicht nachverfolgen. Die Daten zeigen das nicht.
Kaum eine Behörde steht seit Beginn der Corona-Pandemie derart im Fokus wie die kommunalen Gesundheitsämter. Insbesondere ihre Aufgabe, Kontaktpersonen von Corona-Infizierten zu ermitteln und gegebenenfalls in Quarantäne zu schicken, macht sie zu einem der entscheidenden Akteure beim Kampf gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2.
Die Arbeitsfähigkeit der Gesundheitsämter zu gewährleisten war und ist eine der wichtigsten Ziele der Corona-Politik.
Als Grenzwert, also jener Wert, ab dem die Gesundheitsämter eine Kontaktpersonennachverfolgung nicht mehr umfassend gewährleisten können, gilt wie auch in anderen Kontexten der Pandemie eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50. „Das Maß für die Überforderung von Kontaktnachverfolgung und Testkapazitäten lässt sich aus der Inzidenz der Neuinfektionen ableiten“, heißt es zum Beispiel im Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz und dem Bund vom 16. November 2020 (hier als PDF)
„Mit erheblicher Unterstützung von Landes- und Bundesbehörden sowie der Bundeswehr wird daran gearbeitet, dass auch bei 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern pro Woche die Kontaktverfolgung noch vollständig erfolgen kann.“
Alles über 50, so betonte es auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stets, führe zu einem Domino-Effekt: Eine höhere Inzidenz führe zur eine schlechteren Kontaktnachverfolgung, was wiederum mehr Infektionen zur Folge habe.
Stufen-Modell des Robert Koch-Institut für die Gesundheitsämter
Um festzustellen, ab wann die Gesundheitsämter tatsächlich überlastet sind, hat das Robert Koch-Institut (RKI) ein drei Stufen-Modell entwickelt.
- Stufe 1: Die Landkreise müssen dem RKI demnach mitteilen, ob die Durchführung der Infektionsschutzmaßnahmen noch sichergestellt werden kann
- Stufe 2: Die Landkreise müssen mitteilen, ob die Durchführung der Infektionsschutzmaßnahmen absehbar nicht mehr sichergestellt werden kann
- Stufe 3: Die Landkreise müssen mitteilen, ob die Durchführung der Infektionsschutzmaßnahmen aufgrund von Kapazitätsengpässen nicht mehr vollständig erfolgt
Legt man das Infektionsgeschehen der vergangen zwei bis drei Monate zugrunde, als kaum noch ein Landkreis unter der 50er-Inzidenz lag, müsste man also davon ausgehen, dass die Mehrheit der Gesundheitsämter in Stufe 3 zu verorten ist.
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Aus den täglichen Lageberichten des Bundesgesundheitsministerium zur Covid-19-Pandemie geht jedoch hervor, dass selbst auf dem Höhepunkt der zweiten Welle nur wenige Landkreise – der Selbstauskunft nach – sich der Stufe 3 zurechneten.
In einem Bericht des Bundesgesundheitsministeriums zur Covid-19 Lage vom 15. Dezember 2020 meldeten demnach 20 Landkreise, dass die Durchführung der Infektionsschutzmaßnahmen aufgrund von Kapazitätsengpässen nicht mehr vollständig erfolge, 22 meldeten, dass die absehbar geschehen könnte.
Gleichzeitig lagen zu diesem Zeitpunkt lediglich sieben Landkreise oder kreisfreie Städte unter einem Inzidenzwert von 50 pro Woche. 346 Kommunen lagen über 100, 130 gar über einem Sieben-Tage-Inzidenzwert von 200.
Kontaktnachverfolgung auch oberhalb der 50er-Inzidenz möglich
Grund dafür könnte auch die Offenheit des RKI-Stufen-Modells sein. „Die Einschätzung, ob die Durchführung von Infektionsschutzmaßnahmen absehbar nicht mehr sichergestellt ist oder nicht mehr vollständig erfolgt, obliegt dem lokalen Gesundheitsamt“, heißt es beim RKI.
Doch selbst wenn die einzelnen Gesundheitsämter die Stufen unterschiedlich interpretieren sollten: Eine Überlastung ab einem Inzidenzwert von 50 lässt sich aus den BMG-Berichten in keinem Fall ableiten.
Ende Januar, das zeigt ein weiterer BMG-Lagebericht, waren insgesamt noch 8 Landkreise der Stufe 3 zugeordnet, darunter der Landkreis Gießen. Auf Nachfrage zeigte man sich dort jedoch sogar überrascht von der Einordnung. „Den Zeitpunkt Ende Januar können wir nicht bestätigen“, schreibt ein Pressesprecher des Landkreises auf Anfrage.
„Durch die erheblich steigenden Infektionszahlen konnte im Dezember eine umfassende Fall- und Kontaktpersonenermittlung nicht mehr gewährleistet werden. Ende Januar war eine vollständige Fall- und Kontaktpersonenermittlung wieder möglich.“
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Auch mit der aktuellen Personalsituation sei man in Gießen zufrieden: „Wir verfügen über insgesamt 18 Bundeswehrsoldaten, 8 RKI-Scouts sowie 5 Personen, die aus der Landesverwaltung abgeordnet wurden. Zusätzlich verfügen wir über Kapazitäten aus einem internen Backup-Pool sowie angestellten Studierenden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist dies ausreichend.“ Die Sieben-Tages-Inzidenz in Gießen lag zu besagtem Zeitpunkt bei 78,3.
Ein atmendes System
Bernhard Bornhofen, Leiter des Gesundheitsamt Offenbach, hält die Grenze von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner und Woche für wenig hilfreich. „Es gibt da keine starren Grenzen, das ist ein atmendes System“, sagt er.
„Wir schaffen auch mal eine Zeitlang eine Sieben-Tages-Inzidenz von 100. Es hängt auch von der Umgebungssituation ab. Im Lockdown haben die Menschen nur wenige Kontakte. Vorher, als ein junger Mensch 70 Kontaktpersonen hatte, kam man schneller an die Grenze des Leistbaren.“
Bornhofen konnte durch Unterstützung der Bundeswehr seine Personalkapazitäten so ausbauen, dass derzeit zehn statt nur fünf Kontaktnachverfolger auf 20.000 Einwohner kommen. Natürlich gebe es auch Phasen der Überlastung, so Bornhofen. „Es ist aber nicht so, dass die Kontaktnachverfolgung dann von einen Tag auf den anderen zusammenbricht. Bei zu vielen Fällen muss man dann Abstriche in der Tiefe der Nachverfolgung machen.“
Neben Offenbach und Gießen bestätigten auch viele weitere Gesundheitsämter gegenüber Tagesspiegel Background, dass sie mit dem zur Verfügung gestellten Personal zurechtkämen und dass eine Überschreitung der 50er-Inzidenz an sich noch kein Problem darstelle. Insgesamt sind derzeit etwa 5.000 Soldat:innen der Bundeswehr im Einsatz, um die Gesundheitsämter bei der Kontaktpersonennachverfolgung zu unterstützen.
Dazu kommen 1.444 sogenannte Containment Scouts, in der Regel Medizin-Studierende oder anderer Gesundheitswissenschaften, die vom RKI für die Kontaktpersonennachverfolgung geschult wurden. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte vor Kurzem an, die Stellen der Containment Scouts auf 2.000 zu erhöhen.
Kontakttagebuch wäre eine Entlastung
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung äußerte Spahn zu der Personalsituation der Gesundheitsämter wie folgt: „Zur Wahrheit gehört, dass irgendwann in so einer Welle der Punkt kommt, an dem kein Gesundheitsamt die Infektionsketten mehr nachvollziehen kann“, so Spahn. „Wenn die Leute selbst nicht wissen, wo sie sich angesteckt haben, hilft selbst eine Verzehnfachung des Personals nicht.“
Es nicht unwahrscheinlich, dass er damit recht hat: Das Nadelöhr, so bestätigen es viele Gesundheitsämter gegenüber Tagesspiegel Background, sei derzeit nicht unbedingt das Personal – auch wenn alle darauf hinweisen, dass die Nachverfolgung nur durch Unterstützung der Bundeswehr und Personal aus anderen Landes- und Kommunalverwaltungen aufrechterhalten wird. Ein größeres Problem stellt für viele das diffuse Infektionsgeschehen da.
„Es gibt eine Art Sättigungsgrenze bei der Personalaufstockung“, sagt Alexandra Barth, Leiterin des Gesundheitsamtes in Neumünster. „Ich kann nicht unendlich viel fachfremdes Personal einsetzen. Die müssen ja alle angelernt und geleitet werden.“
Hoheitliche Aufgaben, wie zum Beispiel eine Quarantäne anzuordnen, könne ohnehin nur von regulären Mitarbeitern der Gesundheitsämter wahrgenommen werden. Aktuell beschäftigt Barth gut 80 Personen, davon 40 von der Bundeswehr, von denen wiederum bis zu 6 gleichzeitig im Dienst seien.
Eine wirkliche Entlastung wäre es, so Barth, wenn die Leute endlich anfingen, ein Kontakttagebuch zu führen – so wie dies im Grunde seit Beginn der Pandemie gefordert werde.
Daniel Böldt