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Eine Europafahne weht vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.
© Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Wahlen zum Europäischen Parlament 2019: Europas vergessene Schicksalsfrage

Ob die Radikalisierung in den Mitgliedstaaten auf die EU durchschlägt, entscheidet sich bei der Europawahl 2019. Ein Gastbeitrag.

Wenn man die politischen Debatten der letzten Wochen verfolgt, bekommt man den Eindruck, die Zukunft Europas entscheide sich allein in der Migrationspolitik. Doch kaum kann man an dieser Front etwas durchatmen, folgt schon bald die nächste Herausforderung für unseren Kontinent: die Europawahl im Mai 2019, die bislang kaum jemand ernsthaft auf dem Zettel zu haben scheint.

Die Wahlen im kommenden Jahr drohen zum ultimativen Kampf zwischen zwei Achsen zu werden: dem etablierten Brüsseler Europa, das sich mit einem neuen populistischen Nationalismus konfrontiert sieht. In Italien ist nun ein neuer Rechts/Links-Nationalismus in der Regierungsverantwortung, der Anti-Austeritäts- und Anti-Migrationsgesinnungen zusammenführt und so einen neuen Pan-Populismus geschaffen hat.

Es reicht nicht, nur die Errungenschaften zu beschwören

Es besteht die reale Gefahr, dass die regierungsfähigen Kräfte Europas der revolutionären Energie dieser neuen Allianz nicht mehr entgegensetzen als die belehrende Verteidigung des Status Quo. Aber einfach nur die Errungenschaften Europas zu beschwören wird nicht reichen, wäre sogar gefährlich.

Die aktuelle Regierungskrise in der Migrationspolitik hat gezeigt, dass die neue Ära der internationalen Politik auch in Berlin angekommen ist und dass die Suche nach transnationalen Lösungen zunehmend als Schwäche wahrgenommen wird. Die Großmachtpolitik ist zurück und das „America first“ findet zunehmend ein beunruhigendes Echo in vielen weiteren Hauptstädten. Donald Trump und andere Populisten haben es darauf abgesehen, das Gesellschaftsmodell zu zerstören, das die Europäische Union repräsentiert.

So stellt sich inzwischen wieder die Systemfrage, nur diesmal anders als im Kalten Krieg, als man dem „westlich-demokratischen System“ große Überlegenheit attestierte. Heute fragen sich nämlich inzwischen viele, ob die offene Gesellschaft mit Rechtsstaat und Gewaltenteilung überhaupt noch liefern kann. Das ist eine gefährliche Entwicklung, weil damit sozialer Fortschritt und Liberalisierung, die über Jahrhunderte erstritten worden sind, grundsätzlich in Frage gestellt werden. Hinzu kommt eine technologische Revolution, die viele Menschen verunsichert und unsere Gesellschaften in digitale Gewinner und Verlierer teilt. Überdies erhöht die Entkoppelung des ökonomischen vom sozialen Fortschritt den Druck auf das freie und solidarische Politikmodell.

Die regierungsfähigen Parteien brauchen ein disruptives Programm

Es ist nachvollziehbar, dass große Teile der Bevölkerung angesichts dieser immensen Veränderungen ein Gefühl des Kontrollverlusts spüren – und immer mehr auf die politischen Kräfte setzen, die eine Veränderung und kein „Weiter so“ versprechen. Deshalb brauchen auch die regierungsfähigen Kräfte ein disruptives Programm, um den Bürgern zu zeigen, dass das europäische Modell Teil der Lösung ist, sogar um die Nationalstaaten zu schützen.

Wir müssen Europas Vorzüge umverteilen, damit nicht nur seine Freunde die Vorzüge der Europäische Union spüren. Konkret heißt das: wir brauchen neben sicheren Außengrenzen und Geheimdienstkooperation gegen den Terrorismus einen europäischen Fonds, der die öffentliche Hand in den von der Migration am stärksten betroffenen Gemeinden Europas unterstützt. Wir müssen Unternehmen wie Facebook oder Google, die größer sind als viele europäische Länder, endlich unseren Regeln unterwerfen und Steuerhinterziehung viel stärker bekämpfen. Das EU-Parlament wird eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, gegenüber US-Präsident Donald Trump und Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping für faire Handelsabkommen einzutreten. Und wo sind die Konzepte, die auch in der Steuer- und Wirtschaftspolitik den epochalen Wandel durch die Digitalisierung berücksichtigen? Wo ist ein plausibler Aufschlag für klimaneutrale Städte und Verkehr, damit Europa wirklich der Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel wird?

Die EU hat viel Macht, um Standards zu setzen, wenn sie einig auftritt

Es ist höchste Zeit, um aufzuzeigen, wohin Europa will und worin die spezifischen Ansätze der europäischen Problemlösung liegen. Die Europäische Union hat viel Macht, um Standards für die Digitalisierung zu setzen, die Herausforderungen der Einwanderungspolitik zu bewältigen, ohne ihre Werte zu verraten, und die Handelspolitik fair und sozial verträglich zu gestalten. Deutschland und die anderen EU-Mitgliedsstaaten könnten als Einzelstimme bei diesen Themen fast nichts bewirken.

Kommt es aber zum Kampf der Populisten gegen ein zaghaftes Establishment, könnten die Europawahlen zum Desaster für unseren Kontinent werden. Bislang blieb die Europäische Kommission von politischen Populismus weitgehend verschont, während das Europaparlament schon jetzt viele radikale Abgeordnete zählt. Ab 2019 kann die politische Radikalisierung in den Mitgliedstaaten voll auf die Brüsseler Institutionen durchschlagen, wenn die immer mehr werdenden populistischen Regierungen „ihren“ Anti-EU-Kommissar nach Brüssel entsenden. Damit würde nicht nur die Spaltung der EU vertieft und der ökonomische und soziale Abstieg des Kontinents wäre besiegelt – es wäre das Ende des europäischen Gesellschaftsmodells, das auf Sozialstaat, sozialer Marktwirtschaft und ökologischem Miteinander basiert. Das darf und kann uns nicht egal sein. Der Weckruf von Jürgen Habermas, den er jüngst in einem ZEIT-Artikel formuliert hat, dass die Parteien viele ihrer Wähler normativ unterfordern, ist richtig und er gilt vor allem in der Europapolitik. Wenn es aber gelingt, dass die regierungsfähigen Parteien mit einem ambitionierten Programm, das die Sorgen der Europa-skeptischen Wähler adressiert, und mit starken Kandidaten in die Europawahl gehen, kann diese Wahl der Beginn einer fortschrittlichen Bewegung sein. Es liegt an uns!

Dr. Markus Engels ist Direktor der Global Solutions Initiative, Mark Leonard ist Direktor und Mitbegründer des European Council on Foreign Relations.

Markus Engels, Mark Leonard

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