Krise in China: Europas Lohndrückerei muss ein Ende haben
Europa soll viel exportieren, das predigte nicht nur Angela Merkel. Die Krise in China aber zeigt nun: Dieses Modell funktioniert nicht mehr. Ein Kommentar.
Sigmar Gabriel gab gleich Entwarnung. Als vergangene Woche erst in China und dann im Rest der Welt die Börsenkurse stürzten, mochte Deutschlands Wirtschaftsminister keine Gefahr erkennen. Schließlich gingen nur acht Prozent der deutschen Ausfuhren ins Reich der Mitte. Darum könne der China-Crash „nicht dazu beitragen, die deutsche Wirtschaft zu beeinträchtigen“, versicherte Gabriel.
Wenn er sich da mal nicht täuscht. Gewiss, das Platzen der Aktienblase in Schanghai trifft erst mal nur die Anleger aus Chinas Mittelschicht, die viel Geld verloren haben. Doch zugleich ist das fernöstliche Börsenbeben Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels der globalen Wirtschaftsstruktur, der für Europa und insbesondere für Deutschland schwerwiegende Konsequenzen haben wird: Der rasende Aufstieg der Schwellenländer, und da vor allem der von China, geht zu Ende. Die zweistelligen Wachstumsraten, mit der sich die große Mehrheit der Chinesen binnen einer Generation aus der absoluten Armut befreite, wird es künftig nicht mehr geben. Selbst jene sieben Prozent Wirtschaftswachstum, die Pekings Regenten in diesem Jahr noch immer verheißen, sind unrealistisch. Seit Januar ist der Verbrauch von Zement und Strom sogar gesunken. China droht also erstmals nach der Mao-Ära eine Rezession.
China als letzter großer Antrieb der globalen Ökonomie
Das aber wird auch die Wirtschaft der übrigen asiatischen Aufsteiger von Malaysia bis Indonesien bremsen, deren Unternehmen eng mit China verbunden sind. Damit einher geht ein Verfall der Rohstoffpreise, der wiederum Australien, Russland, Brasilien und vielen afrikanischen Ländern harte Einbußen bringen wird.
Eben diese Länder waren aber zusammen mit China der letzte große Antrieb für die globale Ökonomie. Seit der Implosion der amerikanisch-europäischen Finanzindustrie im Jahr 2008 gingen vier Fünftel der weltweiten Zunahme der Wirtschaftsleistung allein auf die Schwellenländer zurück. Davon hat vor allem die deutsche Industrie profitiert. Fast zwei Drittel des enormen Wachstums der deutschen Exporte gingen nach Asien und Lateinamerika. Folglich droht nun auch dem deutschen Exportwunder das Ende.
Spätestens dann wird offensichtlich, wie kurzsichtig die bisherige deutsche und mit ihr auch die europäische Wirtschaftspolitik ist. Denn die Bundesregierung und ihre europäischen Alliierten kennen nur noch ein Rezept: Mit sinkenden oder stagnierenden Löhnen sollen Europas Unternehmen an „Wettbewerbsfähigkeit“ gewinnen und vermehrt ins Ausland verkaufen, um sich so aus der Krise zu exportieren.
In Deutschland begann das schon zu Zeiten der Schröder-Regierung. Über 15 Jahre stieg die Produktivität der Wirtschaft schneller als Löhne und Gehälter. Das heißt, der Zuwachs an Wertschöpfung steigerte nur wenig die Nachfrage im Inland. Umso stärker konkurrierten deutsche Anbieter erst die Wettbewerber in den Eurostaaten in die Krise, und als dort die Nachfrage einbrach, kompensierten sie das mit Exporten nach Übersee. So stieg der deutsche Überschuss im Außenhandel auf abenteuerliche 7,4 Prozent der Wirtschaftsleistung, so viel wie in keinem anderen Flächenstaat der Welt. In der Folge ist die deutsche Wirtschaft auf Gedeih und Verderb abhängig von der Konjunktur in Asien und Amerika und mit ihr auch die der anderen Eurostaaten.
Europas Regierungen werden die Binnenkonjunktur anschieben müssen
Unvermeidlich kommen der Export-Junkie Deutschland und seine Nachahmer darum jetzt auf kalten Entzug. Dabei will es die Ironie der Geschichte, dass deren Regierungen vermutlich nichts anderes übrig bleiben wird, als das nachzuholen, was Pekings Wirtschaftslenker im Übermaß betrieben haben. Als Chinas Exporte nach 2008 einbrachen, setzten sie auf steigende Löhne zur Stärkung der Binnennachfrage und legten ein gigantisches Konjunkturprogramm auf, das dem Riesenreich das modernste Bahn- und Straßennetz der Welt sowie einen Bauboom ohnegleichen bescherte – und dann außer Kontrolle geriet. Zuletzt stieg der Anteil der Investitionen auf absurde 44 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, mehr als doppelt so viel wie in Deutschland. Zahlreiche Geisterstädte und stillstehende Stahl- und Zementwerke stehen nun für die maßlosen Überkapazitäten, die Chinas Volkswirtschaft erschüttern.
Die Eurostaaten dagegen leiden unter dem Verfall ihrer Infrastruktur, weil die staatlichen Investitionen im Zuge der Sparpolitik immer weiter fallen. Vielleicht erzwingt ja nun die Krise in Fernost die Wende: Euroland muss investieren und die Lohndrückerei beenden. Geschieht das nicht, wird Chinas Krise auch die unsere sein.