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Lissabon: Demonstranten machen die Troika für Arbeitslosigkeit verantwortlich.
© IMAGO

Griechenland-Krise: Eine europäische Regierung ist Europas einzige Chance

Am Fall Griechenland zeigt sich für Jürgen Habermas der „politische Bankrott“ der EU-Staatschefs – ist die europäische Idee jetzt noch zu retten?Nur durch eine gemeinsame, demokratisch legitimierte Regierung mit Budget. Eine Analyse

Am Ende erschrak sogar der Mann, der bei der Schlacht am Verhandlungstisch den Vorsitz führte. Er habe „wirklich Angst vor der politischen Ansteckung durch die griechische Krise“, bekannte Donald Tusk, der frühere polnische Premier und heutige Präsident des Europäischen Rates, nach dem jüngsten Gipfel zur Euro-Rettung. Noch fühle er zwar „keine revolutionäre Stimmung, aber eine weit verbreitete Ungeduld“. Wenn dieses Gefühl „eine soziale Erfahrung wird, dann ist das die Einleitung für Revolutionen“, warnte Tusk.

Revolution? Im vereinten, friedlichen Europa? Das klingt übertrieben. Doch Tusk hatte zuvor einen Kampf leiten müssen, wie es ihn in der Europäischen Union noch nie gab. 17 Stunden lang hatte er mit den Regierungschefs der Euro-Staaten um die Abwendung des Staatsbankrotts in Griechenland gerungen.

Die Operation gelang – doch das Ergebnis war verheerend. Die Regierungen der anderen Euro-Staaten drohten Griechenland mit dem „zeitweiligen Ausschluss“ aus der Währungsunion und damit dem wirtschaftlichen Chaos. Das ließ Ministerpräsident Alexis Tsipras nur die Wahl, sich und seine Regierung bedingungslos Forderungen zu unterwerfen, die sein Land noch tiefer in die Rezession stürzen.

Seitdem exekutieren Tsipras und seine Minister genau das, was die große Mehrheit ihrer Bürger noch eine Woche zuvor per Referendum abgelehnt hatte: Steuererhöhungen, Rentenkürzungen und Massenentlassungen. Mehr noch: Fortan muss die Regierung in Athen jeden Gesetzentwurf nicht gewählten Beamten der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds zur Genehmigung vorlegen, noch „ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt oder das Parlament befasst wird“, wie es im Ratsbeschluss heißt.

Der Euro untergräbt die Verfassungen seiner Mitgliedsstaaten

So behalten die Griechen zwar den Euro, aber sie verlieren ihre Demokratie, und europaweit erhob sich eine Welle des Protests. Der Europäische Rat habe seinen „politischen Bankrott“ erklärt, zürnte stellvertretend für viele der Soziologe Jürgen Habermas, der als Vordenker der europäischen Einigung weit über Deutschland hinaus anerkannt ist. „Die Degradierung eines Mitgliedslandes auf den Status eines Protektorats widerspricht offen den demokratischen Prinzipien der Europäischen Union“, konstatierte er.

Das machte sichtbar, was Euro-Kritiker seit je beklagen: Die Gemeinschaftswährung untergräbt, so wie sie derzeit verfasst ist, die demokratischen Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten, und das keineswegs nur in Griechenland. Ursache dafür ist der zentrale Widerspruch der Euro-Verfassung: Die Mitglieder teilen eine Währung, aber sie bewirtschaften ihre Staatshaushalte getrennt. Dafür steht der Artikel 125,1 des EU-Vertrages, auch als „Nichtbeistands“-Klausel bekannt. „Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen“, heißt es dort, und das Gleiche gilt für auch für die Mitgliedsstaaten untereinander.

Damit wollten die Euro-Gründer, allen voran Deutschlands Kanzler Helmut Kohl, ihre Kritiker beruhigen, die genau das Gegenteil vorhersagten. Deshalb gibt es bis heute keinen gemeinsamen Haushalt und folglich auch keine gemeinsame, demokratisch gewählte Regierung der Euro-Zone. Doch mit dieser Beschränkung verwehrten die Euro-Gründer sich und ihren Nachfolgern jegliches Instrument, eine ungleiche Entwicklung der Mitgliedsländer und Krisenschocks mit einer Politik auszugleichen, die von den Bürgern aller Staaten gemeinsam getragen wird.

Ein rechtliches Niemandsland jenseits der Demokratie

Lissabon: Demonstranten machen die Troika für Arbeitslosigkeit verantwortlich.
Lissabon: Demonstranten machen die Troika für Arbeitslosigkeit verantwortlich.
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Zwangsläufig geriet die Konstruktion daher mit der Finanzkrise ab 2008 auf die schiefe Bahn. Ein Staat nach dem anderen musste Milliarden in die Stützung von Banken und Konjunktur stecken. Die schwächeren stürzte das aber in die Überschuldung, allen voran Griechenland, dessen Regenten schon mit einem überhöhten Schuldenstand in den Euro-Verbund gestartet waren. Doch für eine Staatsinsolvenz waren die Euro-Länder nicht gerüstet.

Zudem hätte ein Ausfall der Zahlungen aus Athen das Bankensystem erneut erschüttert. Allein die deutschen und französischen Geldhäuser hatten in Griechenland mehr als 100 Milliarden Euro im Feuer. Und so verfielen die Euro-Strategen auf eine Notkonstruktion jenseits des EU-Rechts: Sie schufen den Rettungsfonds EFSF, später ESM genannt, um mit Krediten die überschuldeten Staaten zahlungsfähig zu halten, für die nun doch alle Euro-Staaten gemeinsam haften.

Zugleich installierten sie die „Troika“ aus IWF, EZB und Europäischer Kommission als Kontrollinstanz, die in den Schuldnerstaaten die „fiskalische Konsolidierung“ durchsetzen sollten. Binnen weniger Monate stieg so die „Euro-Gruppe“, die rein informelle Versammlung der Euro-Finanzminister, zur mächtigsten Institution der EU auf. Hier entschieden fortan die Minister und mehr noch die von ihnen ermächtigten Beamten, ob und unter welchen Bedingungen die Krisenländer weiteren Kredit bekamen.

EU-Funktionäre entscheiden über das Leben von Millionen

De facto gibt es also eine zentralisierte Rumpfregierung für Euro-Land. Aber sie residiert im rechtlichen Niemandsland jenseits der Demokratie. Weder der ESM noch die Euro-Gruppe und ihre Troika sind irgendeinem Parlament rechenschaftspflichtig. Es gibt keine öffentlichen Protokolle ihrer Sitzungen und selbst gravierende Fehlentscheidungen wie die brutale Schrumpfung des griechischen Gesundheitsdienstes bleiben ohne Folgen für die Verantwortlichen.

Zwar mussten alle nationalen Parlamente die jeweiligen Kreditprogramme genehmigen. Aber sie konnten stets nur Ja oder Nein sagen. Die mit den Programmen verordnete Politik konnten sie nicht ändern. So etablierte sich ein von Habermas so getaufter „postdemokratischer Exekutivföderalismus“. Minister und EU-Funktionäre fällen Entscheidungen über das Leben von Millionen, ohne dafür selbst bei den betroffenen Wählern um eine Mehrheit werben zu müssen. Und mit dem Recht der Stärkeren erhoben die Gläubiger geführt von der Bundesregierung und Finanzminister Wolfgang Schäuble, allein den Ausgleich des Staatshaushalts zur obersten Maxime. Für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Not sehen sich die Euro-Gruppe und ihre Troikaner nicht zuständig.

In der Folge erzeugt das Euro-Regime das Gegenteil der ursprünglichen Absicht: Statt die „Völker Europas“ zu einer „immer engeren Union“ zusammenzuschließen, wie es der EU-Vertrag verheißt, hetzt es sie gegeneinander auf. In den Krisenländern sehen die Menschen sich gefangen in einem aufgezwungenen Teufelskreis aus Sparpolitik und Rezession. In den Gläubigerländern dagegen rebellieren die Bürger gegen den Einsatz ihrer Steuergelder für Staaten, deren wirtschaftliche Misere sie für selbst verschuldet halten. Und keine glaubwürdige Instanz steht bereit, die erklärt, was doch offenkundig ist: Alle gemeinsam haben die Fehlentwicklung verursacht, und nur gemeinsam können sie diese überwinden.

Schäubles Modell beruht auf einer falschen Annahme

Denn so wie es die griechischen Bürger waren, die ihren Staat betrogen und ihre Oligarchen gewähren ließen, waren es eben auch deutsche und französische Banken, die das dysfunktionale griechische System bedenkenlos mit dreistelligen Milliardenkrediten genährt und damit die Überschuldung überhaupt erst ermöglicht haben. Und so gierig, wie Politiker und Banker in Irland, Spanien und Portugal ihren Immobilienboom antrieben, so unverantwortlich finanzierten Investoren aus dem Rest der Euro-Zone unter Aufsicht der untätigen EZB-Direktoren den Exzess bis zum Zusammenbruch.

Diese kollektive Verantwortung blenden Minister Schäuble und seine Alliierten aber völlig aus. Mit eiserner Hand bürden sie die Lasten der Anpassung allein den Schuldnerstaaten auf, selbst wenn diese dabei auf der Strecke bleiben. Ginge es nach Schäuble, würde dafür sogar der Posten eines „Haushaltskommissars“ geschaffen, „der nationale Haushalte zurückweisen kann, wenn sie nicht den vereinbarten Vorschriften entsprechen“, schrieb er vergangenes Jahr in der „Financial Times“.

Dies von Schäuble und von Kommissionschef Jean-Claude Juncker verfolgte Modell beruht jedoch implizit auf einer falschen Annahme: Demnach prosperiert die Euro-Zone, wenn nur alle Mitgliedsländer dem deutschen Modell folgen, also Löhne drücken, Exporte steigern und staatliche Investitionen zurückfahren.

Das aber hat in Deutschlands Krisenjahren nur deshalb funktioniert, weil die anderen Euro-Staaten es gerade nicht so hielten, und – gestützt auf Kredite aus Deutschland – mit ihren Importen die deutsche Konjunktur befeuerten. Wenn aber alle Euro-Staaten die gleiche Strategie verfolgen, drückt das europaweit die Nachfrage, ohne dass erhöhte Exporte das ausgleichen könnten. Eben darum steckt die Euro-Zone, anders als die USA, in der Stagnation fest. Das jetzige Euro-Regime beruhe auf „fantasy economics“, spottete der Nobel-Ökonom Paul Krugman.

Die rechten Parteien sammeln Euro-Gegner

Lissabon: Demonstranten machen die Troika für Arbeitslosigkeit verantwortlich.
Lissabon: Demonstranten machen die Troika für Arbeitslosigkeit verantwortlich.
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Bleibt es bei diesem programmierten Misserfolg, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis irgendwo in Euro-Land die Gegner der Währungsunion die Macht erobern. Der rechtspopulistische Front National ist schon jetzt Frankreichs zweitstärkste Partei, deren Anführerin Marine Le Pen mit der Parole wirbt, „nennt mich Madame Frexit“. Auch in Italien gewinnen die Euro-Gegner der Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung des Beppe Grillo stetig an Unterstützung. Ihrem Land hat der Euro-Beitritt bisher auch nur geschadet. Der feste Wechselkurs, der die deutschen Exporte beflügelte, hat Italiens Industrie weit zurückfallen lassen.

Wolfgang Streeck, auch er ein Soziologe von Weltruhm und der Sympathie für Rechtspopulisten unverdächtig, gibt ihnen in diesem Punkt recht. Es sei besser, das „monströse Projekt“ zu beenden, weil es nur schade, „unterschiedlichen Wirtschaftsgesellschaften eine gemeinsame Währung aufzupfropfen“.

Die Euro-Gegner aller Couleur unterschätzen jedoch die Kosten der Rückabwicklung einer Währungsunion. Denn im Schutz der gemeinsamen Währung hat die Verflechtung der Wirtschaft dramatisch zugenommen. Zigtausende Unternehmen können sich nur deshalb über die Grenzen hinweg beliefern, weil es eben kein Währungsrisiko gibt.

Würde Europa wie einst mit zwei Dutzend Währungen wieder zum Spielball der Devisenspekulanten, müssten die Unternehmen sich absichern, und viele Geschäfte würden sich nicht mehr lohnen. Die grenzüberschreitende Arbeitsteilung würde zurückgehen, alle gemeinsam müssten mit hohen Verlusten von Jobs und Wohlstand bezahlen. Zugleich würden zigtausende Verträge, die in Euro denominiert sind, hinfällig, und eine endlose Lawine von Klagen würde über Europas Gerichte hereinbrechen.

Wie die Erosion der Demokratie zu stoppen ist

Wenn überhaupt, dann könnte das Megaprojekt nur im Konsens der bisherigen Euro-Staaten gelingen und müsste akribisch geplant werden. Diesen Konsens wird es aber nicht geben. Wenn in Europa etwas „noch schwieriger ist als die Integration, dann ist es die Desintegration“, mahnte Wolfgang Münchau, Europaexperte der „Financial Times“.

So bleibt als einziger Ausweg nur, was eigentlich schon am Anfang hätte stehen müssen: eine Regierung für die Euro-Zone, die von deren Bürgern gemeinsam gewählt wird, über ein eigenes Budget verfügt und so im Krisenfall eine europäische Arbeitslosenversicherung und staatliche Investitionen finanzieren kann, um die Spaltung in Verlierer und Gewinner aufzuhalten. Nur so wäre die Erosion der Demokratie zu stoppen.

In einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ist es ja nicht grundsätzlich falsch, im Notfall für eine Teilregion das Recht auf Selbstbestimmung zu beschränken. Nichts anderes geschieht, wenn Bundesländer bei überschuldeten Kommunen die Regie übernehmen. Aber ein solcher Eingriff ist nur legitim, wenn die Exekutive von allen Bürgern gemeinsam per Wahl dazu ermächtigt wurde. Die Euro-Gruppe dagegen übt zentralisierte Macht aus, ohne dafür legitimiert zu sein.

Daher führe der ewige Diskurs über „mehr oder weniger Integration in Europa in die Irre“, warnt die Politologin und Leiterin der Denkfabrik „Democracy Lab“, Ulrike Guérot. Tatsächlich sei Europa längst integriert. Jetzt müsse die „Demokratisierung“ folgen.

Vielleicht bleibt der beste Vorschlag eine Utopie

Nichts anderes stand hinter der Rebellion der Griechen. Schockiert von der Eskalation dieses Streits wagte es nun zumindest Frankreichs Präsident François Hollande auszusprechen, was eigentlich alle wissen: Die Euro-Zone benötige, wenn sie bestehen wolle, eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament und auch ein „spezifisches Budget“, forderte er.

Freilich gibt es auch gegen dieses Vorhaben einen gewichtigen Einwand: Niemand weiß, ob Europas Völker dazu bereit sind. Über Jahre haben sie erfahren, dass die EU ihnen „Reformen“ aufzwang, die der Mehrheit Nachteile brachte. Gerade wegen des gescheiterten Krisenmanagements ist das Misstrauen gegen die europäischen Institutionen massiv gewachsen. Harten Widerstand würden auch die Beamten der nationalen Apparate leisten, weil sie an Einfluss verlieren würden.

Außerdem müsste ein Verfassungskonvent zur Aushandlung eines neuen EU-Vertrags berufen werden, über den die Bürger anschließend abstimmen müssten. Schließlich wären sie es, die mit ihren Steuern den neuen Euro-Haushalt finanzieren, der drei bis vier Mal so groß sein müsste wie der bisherige, um Wirkung zu erzielen.

Gut möglich also, dass auch dieser Vorschlag eine Utopie bleibt. Doch schon der Versuch wäre besser, als die Fortsetzung eines Regimes, das die Europäer fortwährend gegeneinander aufbringt. „Die europäischen Bevölkerungen müssen lernen, dass sie ihr sozialstaatliches Gesellschaftsmodell nur noch gemeinsam behaupten können“, schrieb Jürgen Habermas schon 2012. Dafür wäre eine paneuropäische Verfassungsdebatte gerade recht. Käme es dazu, müsste Ratspräsident Tusk auch nicht länger die Revolution fürchten.

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