Treffen im Kanzleramt: Europa zu Gast in Berlin
Drei Regierungschef empfängt Kanzlerin Merkel am Freitag. Ihre Besuche zeigen: Die Flüchtlingsverteilung bleibt ein Streitthema in der EU - und die Brexit-Verhandlungen bleiben zäh.
Deutschland hat zwar nur eine geschäftsführende Regierung. Aber angesichts des Terminkalenders von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) konnte man am Freitag schon den Eindruck gewinnen, dass im Kanzleramt wieder „Business as usual“ herrscht. Vor der blauen Wand in der Regierungszentrale, wo Merkel üblicherweise ihre Pressekonferenzen abhält, war am Vormittag die italienische Flagge platziert, am Mittag die polnische Fahne, und am Nachmittag der Union Jack. Gleich drei EU-Regierungschefs hatte die Kanzlerin zu Gast: Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni, seinen polnischen Amtskollegen Mateusz Morawiecki und die britische Regierungschefin Theresa May.
Dabei hängt die unübliche Ballung der Besuchstermine durchaus mit der schleppenden Regierungsbildung in Deutschland zusammen. Italiens Regierungschef Gentiloni hatte eigentlich bereits in der vergangenen Woche die Kanzlerin in Berlin treffen wollen. Aber der Termin war just für jenen Tag angesetzt, an dem der Koalitionsvertrag von Union und SPD fertig wurde. Die Innenpolitik hatte da zwangsläufig Vorrang, so dass Gentilonis Visite nun am Freitag nachgeholt wurde.
Sowohl in Italien als auch in Deutschland stehen in den kommenden Wochen wichtige Entscheidungen an. In Italien wird am 4. März ein neues Parlament gewählt, und in Deutschland wird am selben Tag ein Ergebnis des SPD-Mitgliederentscheides über die große Koalition erwartet. Nach dem Gespräch mit Merkel trat Gentiloni am Freitag Befürchtungen entgegen, dass Italien nach der Parlamentswahl eine populistische oder anti-europäische Regierung bekommen könne. In Umfragen liegt derzeit ein vom ehemaligen italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi geführtes Rechtsbündnis vorn. Gentiloni erklärte, er befürworte ein Mitte-links-Bündnis unter der Führung seiner sozialdemokratischen Demokratischen Partei.
Merkel sieht "recht gute Chance" für eine Neuauflage der großen Koalition
Merkel erklärte, dass es angesichts der Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen eine „recht gute Chance“ gebe, dass sowohl der CDU-Parteitag am 26. Februar als auch die SPD-Mitglieder einer Neuauflage der großen Koalition zustimmen. Zwar müsse man die Ergebnisse abwarten. „Aber ich bin, was meine Partei anbelangt, optimistisch“, erklärte sie. Gentiloni sagte seinerseits, er wolle sich zwar nicht in den SPD-Mitgliederentscheid einmischen. Aber dann rief er doch die SPD-Mitglieder indirekt zur Zustimmung zur großen Koalition auf: „Dieses Koalitionsabkommen hilft dem europäischen Projekt.“
Merkel und Gentiloni betonten die Übereinstimmungen Deutschlands und Italiens in der EU-Flüchtlingspolitik. Italiens Regierungschef erklärte, dass es durch das Engagement seines Landes gelungen sei, die Schlepper-Netzwerke einzudämmen, die Zahl der Toten im Mittelmeer zu verringern und mehr illegale Flüchtlinge nach Libyen und in andere afrikanische Länder zurückzuführen. Kritisch zeigte er sich angesichts der Weigerung von osteuropäischen Staaten wie Polen, Flüchtlinge nach einer EU-Quotenregelung aufzunehmen. „Niemand kann hier eigenbrötlerisch handeln“, sagte der Regierungschef. Merkel pflichtete dem Gast aus Rom mit der Bemerkung bei, dass Deutschland und Italien bei der für den kommenden Sommer geplanten Reform des EU-Asylsystems „komplett auf einer Linie“ lägen. Mit der geplanten Reform sollen Länder wie Italien und Griechenland im Fall einer neuen Flüchtlingskrise wie im Jahr 2015 entlastet werden.
Polen lehnt EU-Quoten für Flüchtlinge weiter ab
Dass Polen ein Quotensystem zur Aufnahme von Flüchtlingen weiter ablehnt, machte derweil Polens Regierungschef Morawiecki vor seinem Antrittsbesuch in Berlin deutlich. In einem Interview mit dem „Spiegel“ verwies der Politiker der nationalkonservativen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) darauf, dass Polen zehntausende Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen habe.
Nach der Begegnung mit Merkel im Kanzleramt verteidigte Morawiecki das Vorgehen seines Landes bei einem weiteren europäischen Streitthema: der polnischen Justizreform, die nach der Ansicht der EU-Kommission die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Politik einschränkt. Die EU-Kommission hat im vergangenen Dezember wegen der umstrittenen Reform ein Verfahren zum Entzug von Polens Stimmrecht in der EU eingeleitet. Merkel erklärte dazu, dass die Bundesregierung die EU-Kommission unterstütze. Sie setzte auf Fortschritte bei den Gesprächen zwischen der Kommission und der Regierung in Warschau, fügte sie hinzu.
Morawiecki: Pipeline-Projekt Nordstream 2 bedeutet Gefahr für die Ukraine
In einem Vortrag auf Einladung der Körber Stiftung forderte Morawiecki die Europäer auf, wieder Vertrauen in das europäische Projekt aufzubauen: Durch die EU müsse ein Ruck gehen wie der, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997 von Deutschland gefordert habe, Europa müsse wieder solidarischer werden. Es gebe auf dem Kontinent drei große gesellschaftliche Belastungen. Dies seien die soziale Ungleichheit, die die Reichen immer reicher und die Armen ärmer mache, die Ungerechtigkeit der Chancen und die Unterschiede bei der Teilhabe am sozialen Leben. Der Erfolg seiner Partei, der PiS, in Polen speise sich aus dem erfolgreichen Kampf gegen diese Defizite. Polen habe heute ein jährliches Wachstum des Bruttosozialproduktes von fünf Prozent, das allen Menschen zugute käme. Für Europa forderte er neben der Solidarität eine stärkere Verteidigung, einen besseren Schutz der Außengrenzen sowie eine Förderung der Industrie 4.0 und dabei vor allem Unterstützung für mittlere und kleine Unternehmen. Deutliche Reserven ließ er gegenüber der westeuropäischen Vorstellung von einem freien Markt erkennen. Die polnische Wirtschaft sei nach dem EU-Beitritt 2004 einem beispiellosen Ausverkauf ausgesetzt gewesen. Wie auch schon früher bezeichnete Morawiecki das von Deutschland und Russland gegen polnischen Widerstand betriebene Projekt der Gaspipeline Nordstream 2, weil es die Ukraine umgehe, als Einladung an Putin, mit der Ukraine zu machen, was er wolle.
May: Großbritannien fühlt sich "voll und ganz" der Sicherheit Europa verpflichtet
Während Deutschland und Polen um ein möglichst gutes Verhältnis innerhalb der EU bemüht sind, befinden sich die Briten seit ihrem Referendum vom Juni 2016 auf dem Weg zum EU-Ausgang. May kündigte nach der Begegnung mit Merkel an, sie werde an diesem Samstag bei der Münchner Sicherheitskonferenz in ihrer Rede deutlich machen, "dass wir uns voll und ganz der Sicherheit Europas verpflichtet fühlen". Gleichzeitig werde es darum gehen, wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den verbleibenden 27 EU-Staaten nach dem Brexit gestaltet werde solle.
Beim EU-Gipfel Ende März soll es um Leitlinien für die künftigen Handelsbeziehungen zwischen den EU-27 und London gehen. Bislang hat die von May geführte Regierung nicht erkennen lassen, ob sie nach dem Ende der Übergangsperiode, das für den 31. Dezember 2020 geplant ist, einen "harten Brexit" oder eine möglichst enge Anbindung an die Europäische Union plant.
May sprach mit Blick auf die künftigen Handelsbeziehungen davon, dass sie eine "umfassende, ehrgeizige Einigung" erzielen wolle, die sowohl für deutsche als auch für britische Unternehmen von Vorteil sei. In welche Richtung es künftig in den Handelsbeziehungen zwischen beiden Seiten gehen wird, soll im kommenden Herbst in einer politischen Erklärung über das künftige Verhältnis deutlich werden. "Ich bin neugierig, wie sich Großbritannien die Partnerschaft vorstellt", sagte Merkel. "Wir stehen hier schon unter Zeitdruck", erklärte sie weiter. Merkel sprach sich auch für die Zukunft für ein möglichst enges wirtschaftliches Verhältnis zwischen beiden Seiten aus. Gleichzeitig müsse nach ihren Worten in den künftigen Handelsbeziehungen ein Unterschied "zur heutigen Mitgliedschaft" Großbritanniens entstehen - ein Hinweis darauf, dass Großbritannien wohl kaum langfristig die derzeitigen Vorteile der Zollunion und des EU-Binnenmarktes in Anspruch nehmen kann, ohne in die EU-Kasse einzuzahlen.
Albrecht Meier, Gerd Appenzeller