Generalinspekteur der Bundeswehr: "Europa muss in Krisen schneller handeln können"
Eberhard Zorn ist der ranghöchste Soldat der Bundeswehr. Im Interview spricht er über den Zustand der Bundeswehr, die Wehrpflicht und eine europäische Armee.
Herr General, seit April sind Sie Generalinspekteur der Bundeswehr. In welchem Zustand haben Sie die Truppe vorgefunden?
Unsere Soldaten in den Auslandseinsätzen, ob in Afghanistan, Afrika oder im Kosovo, sind hoch motiviert, klasse ausgebildet und gut ausgerüstet. Auch zu Hause sind die Truppenteile, die einsatzgleiche Verpflichtungen erfüllen, gut ausgebildet und ausgestattet. Allerdings wird das benötigte Material, teilweise auch das Personal zum Üben, oft von anderen Einheiten ausgeliehen. Dort fehlt es. Wir arbeiten intensiv daran, die Materiallage zu verbessern.
Ob Personal oder Material – das Leben in der Truppe ist von Mängeln geprägt. Ist die Bundeswehr überhaupt in der Verfassung, das Land zu verteidigen?
Selbstverständlich sind wir in der Lage, unser Land zu verteidigen. Man darf aber nicht allein Deutschland betrachten, sondern muss das Miteinander aller Partner in der Nato und der EU in den Blick nehmen. Wir leben von der Stärke des Bündnisses. Und unsere Beiträge werden international anerkannt und geschätzt. Wir erfüllen zudem alle unsere Aufträge, die wir im Rahmen von Einsätzen der Vereinten Nationen, der Nato oder der EU bekommen haben. Und wir erfüllen alle unsere nationalen Aufträge. Den Schutz des Luftraums vor dem unerlaubten Eindringen fremder oder nicht identifizierter Flugzeuge zum Beispiel. Den Katastrophenschutz. Die Nationale Krisenvorsorge – wenn es also darum geht, Evakuierungsoperationen im Ausland mit militärischen Mitteln zu begleiten, Staatsbürger aus Krisengebieten auszufliegen.
Kann Deutschland sich denn auf seine Partner verlassen? US-Präsident Trump hat bei Gelegenheit schon mal die Nato-Beistandsklausel infrage gestellt.
Wir haben Partner, die klar und unverändert zu ihren Bündnisverpflichtungen stehen. Diesen Eindruck habe ich bei meinen Antrittsbesuchen, bei Gesprächen mit anderen Militärs in den USA und Kanada, bei Nato und EU gewonnen. Diese Gemeinsamkeit, vor allem auch mit den USA, hat sich zuletzt in dem Großmanöver "Trident Juncture" gezeigt, das ich mir gerade persönlich angesehen habe.
Und was kann Deutschland seinerseits den Partnern anbieten? Panzer, Flugzeuge, U-Boote sind es ja wohl eher nicht…
Selbstverständlich bieten wir im Bündnis ausgerüstete Kräfte an. Und wir erfüllen die an uns gestellten Aufgaben. Außerdem leisten wir viel Zivil-Militärische Zusammenarbeit, bilden aus, organisieren Übungen, vernetzen alle miteinander. Unsere Beiträge sind vielfältig. Bei "Enhanced Forward Presence" in Litauen, wo wir die Rahmennation stellen. Beim Air-Policing im Baltikum mit Eurofightern. Bei den ständigen Nato-Einsatzverbänden mit zahleichen Schiffen der Marine. Oder mit unseren Transportflugzeugen, die wir dem European Air Transport Command beistellen. Nein, dass wir heute Probleme mit der Einsatzfähigkeit haben, liegt nicht an der Multinationalität, sondern daran, dass wir in den Jahren nach dem Kalten Krieg die Vorräte zum Beispiel an Panzern drastisch reduziert haben.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wähnte sich Deutschland von Freunden umgeben...
Ja. Nach den Terroranschlägen von Al-Qaida 2001 lag der Fokus dann darauf, die Bundeswehr weltweit schnell einsetzen zu können. Mit der Annexion der Krim und dem hybriden Krieg in der Ukraine ist seit 2014 dann die Landesverteidigung wieder stärker zum Thema geworden.
Und man stellt fest: Die von einst 500.000 auf aktuell 185.000 Soldaten geschrumpfte Bundeswehr ist zu klein dafür.
Wir stellen seit drei Jahren mehr Personal ein – aber: Der Großteil befindet sich natürlich noch in der Ausbildung. Die Feldwebelausbildung dauert drei Jahre, die Offiziersausbildung noch länger. Die Maßnahmen werden sich also in den nächsten Jahren positiv auf die Einsatzbereitschaft auswirken.
Dennoch werden fast verzweifelt Leute gesucht, öffnet sich die Bundeswehr für Ausländer und Schüler ohne Abschluss. Wäre es nicht naheliegender, die ausgesetzte Wehrpflicht wieder einzuführen?
Was die personelle Entwicklung angeht, bin ich zuversichtlich. Grundsätzlich wachsen wir, erreichen fast wieder unser Soll bei der Personalgewinnung. Anspruchsvoll für die Bundeswehr ist aber die Konkurrenz der Wirtschaft, zumal wenn, wie jetzt, die Konjunktur läuft. Wir haben eben besondere Anforderungen. Bei der körperlichen Fitness, wenn es um Minentaucher, Kampfschwimmer, Piloten geht. Oder beim Know-how, wenn wir von Technik-Spezialisten, IT-Fachleuten, Logistikern sprechen. Die sind aber in der zivilen Welt auch sehr gefragt. Die Bundeswehr muss deswegen flexibel sein. In puncto Bildungsstand gibt es genug gute Bewerber. Wir können noch auswählen, bei Offizieren zum Beispiel nehmen wir einen aus vier. Aber der Wettbewerb wird absehbar härter.
Die Wehrpflicht braucht es gar nicht?
Erstens: Das sicherheitspolitische Umfeld hat sich stark verändert. Es gibt rechtlich und sicherheitspolitisch keine Lage, die die Wehrpflicht erforderlich macht. Zweitens: Welche Aufgabe sollten Wehrpflichtige erfüllen? Ich sehe im Moment nicht, dass wir die Herausforderungen von Afghanistan über Afrika bis zur Bündnisverteidigung mit Wehrpflichtigen der klassischen Art lösen können. Drittens: Wie lang soll der Wehrdienst denn sein? Zwölf Monate? Ein Mannschaftsdienstgrad wird bei uns drei Jahre ausgebildet. Schwierig und teuer würde es auch: Man würde wieder Kreiswehrersatzämter benötigen, die Kasernen müssten wieder umgebaut werden, die Dienstleistenden bräuchten Fahrzeuge, Handwaffen – und Tausende Ausbilder. Die Bundeswehr benötigte zuletzt 20.000 Ausbilder, um die Wehrpflichtigen bei einer Wehrdienstdauer von sechs Monaten ausbilden zu können. Wenn ich die jetzt aus anderen Aufträgen rauszöge, könnten die aktuellen Aufträge nicht erfüllt werden. Das alles führt dazu, dass ich sage: Im Augenblick ist die Wehrpflicht keine Hilfe.
In Norwegen üben derzeit 50.000 Soldaten die Reaktion nach einem Angriff auf einen Bündnispartner. Auch mit Amphibienfahrzeugen und Minenverlegern aus dem Depot – scheinbar ist die veraltete Kriegführung wieder aktuell?
Im Gegenteil. In Sachen Landes- und Bündnisverteidigung ist dieses Manöver das fortschrittlichste seit langem. Der Auftrag ist es, Verteidigung im höchsten Intensitätsspektrum abzudecken. Dazu gehört eben auch das konventionelle Gefecht, auch mit Amphibienfahrzeugen und Minenverlegern. Das ist integraler Bestandteil jeder Abschreckungspolitik.
Braucht Europa, wie vom französischen Präsidenten Macron gefordert, eine eigene Armee?
Ein Europa, das seine Bürger schützt, muss schneller handeln können, wenn Krisen entstehen. Daher hat die Europäische Union im Dezember 2017 den Beschluss für eine engere sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit gefasst. Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit – oder Englisch: der Permanent Structured Cooperation, Pesco – gibt es erstmals im Bereich der Verteidigung bindende Verpflichtungen. Damit wurde im letzten Jahr der Grundstein auf dem Weg zu einer Europäischen Verteidigungsunion gelegt. Nun geht es darum, dass wir Fähigkeiten gemeinsam besser und schneller zur Verfügung haben. Wir arbeiten auf eine Armee der Europäer hin, die eigenständige, nationale Streitkräfte so miteinander verknüpft, dass sie gemeinsam Einsätze bestreiten können. Aus unserer Sicht bildet grundsätzlich die Europäische Union den Rahmen für die Zusammenarbeit.
Worin sehen Sie gegenwärtig die größten Bedrohungen für Deutschland und das Bündnis?
An erster Stelle steht die Cyber-Bedrohung. Diese merken auch wir im dienstlichen Alltag – das sind nicht klar lokalisierbare Angriffe, die nur schwer einem konkreten Absender zuzuordnen sind. Weitere wesentliche Bedrohung ist der internationale Terrorismus, der sehr flexibel, sehr beweglich reagiert, Druck ausweicht, auch grenzüberschreitend, wir sehen das gerade beim IS in Syrien und dem Irak. Ein drittes Element ist die Bündnisverteidigung: Wir müssen wirksam abschrecken können an den Rändern der Nato. Und schließlich die Landesverteidigung. Unser Anspruch ist, reaktionsfähig in allen Bedrohungsszenarien zu sein: Wir haben ein Cyberkommando aufgestellt, hier arbeiten Streitkräfte quasi am „High End“. Wir haben Soldatinnen und Soldaten, die wir in Krisengebieten weltweit einsetzen können. Und wir haben Szenarien hoher Intensität für Bündnis- und Landesverteidigung, wie wir sie in Norwegen gerade üben.
Wo steht der Gegner der Bundeswehr?
Wir haben keinen bestimmten Gegner. Wir bereiten uns auf Szenarien vor. Die sind im "Weißbuch" von 2016 sehr gut beschrieben.
Wie gefährlich ist Putins Russland?
Russland verfolgt strategische Ziele in der Ukraine, in Syrien, in der Arktis. Wir haben die Entwicklungen in der Nato genau im Blick. Das entscheidende Mittel zur Konfliktlösung aber ist das politische Gespräch, begleitet von glaubwürdiger Abschreckung.
Was folgt für Sie aus der Ankündigung des US-Präsidenten, aus dem Abrüstungsvertrag von 1987 auszusteigen, der eine Begrenzung der atomaren Mittelstreckenraketen vorsieht?
Ich war Oberleutnant und Jugendoffizier, als damals der Vertrag verhandelt wurde. Als Jugendoffizier hatte ich die Aufgabe, den jungen Menschen zu erklären, worum es dabei ging. Und war sehr erleichtert, dass der Vertrag zustande kam, der Europa eine lange Phase des Friedens und der Stabilität geschenkt hat. Ich habe nicht erst seit der Ankündigung aus den USA Sorge. Auch Russland tut seit Jahren nichts dafür, Zweifel an seiner Vertragstreue auszuräumen. Die Frage ist, was nach der Kündigung des Vertrages käme. Rüstungskontrolle ist für mich ein ungeheuer wichtiger Prozess, der nicht nur für die USA und Russland von Bedeutung ist, sondern für die ganze Welt – und im Falle des INF-Vertrags besonders für Europa. Es ist den Schweiß der Edlen wert, diplomatisch die Initiative zu ergreifen, das Thema in allen Facetten zu diskutieren und die Rüstungskontrollmechanismen voranzubringen.
Wie viel Hoffnung haben Sie mit Blick auf die Protagonisten dieses Streits?
Da kommt Europa und vor allem Deutschland eine gute und wichtige Rolle zu. Denn Deutschland ist als Mittler und Partner weltweit anerkannt, weil wir niemandem etwas aufzwingen, sondern zuverlässig und nachhaltig helfen. Insofern haben wir eine Chance, im politisch-diplomatischen Umfeld Dinge zu bewegen. Und die sollten wir nutzen.
Zum Schluss eine ganz andere Frage. Als der Fall des Oberleutnants Franco A. bekannt wurde, der rechtsextreme Terroranschläge geplant und sich monatelang als syrischer Flüchtling ausgegeben hatte, attestierte die Ministerin der Bundeswehr ein "Haltungsproblem". Wie wollen Sie den Riss zwischen der Truppe und Ursula von der Leyen wieder kitten?
Wie in zivilen Organisationen trifft man auch in der Truppe häufig auf das Vorurteil: „Die da oben wissen gar nicht mehr, was hier unten eigentlich passiert.“ Ich glaube aber, das Gefühl ist objektiv so nicht richtig. Ich bin ja schon länger hier im Ministerium, und wir haben mit der Zeit doch ein sehr gutes Lagebild entwickelt. Aber so wichtig dieses Bild für die Steuerung ist, zum Gefühl dringen Sie nur vor, wenn Sie zuhören. Und das habe ich mir vorgenommen: Nicht schnell mit dem Hubschrauber rein, Vortrag halten, wieder raus – das mache ich nicht. Ich versuche, Zeit in Gespräche zu investieren. Da kann ich vieles erklären. Direkte Information und Kommunikation sind das A und O.
Sie sind von Berufswegen der – militärische – Berater der Ministerin. Hört die auf Sie?
Ich nutze persönliche Gespräche, um der Ministerin meine Eindrücke und Erfahrungen aus der Truppe, von Tagungen und Dienstsitzungen mitzuteilen. Ich kann sagen: Mein Rat wird gefragt und gehört. Meine Empfehlungen tragen dazu bei, Entscheidungen vorzubereiten, gleichermaßen nehme ich Botschaften wieder mit zurück in die Truppe. Ich habe das Gefühl, dass die Ministerin hohes Interesse an Menschen hat. Das wird in der Truppe auch anerkannt.
Das Gespräch führte Michael Schmidt.