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Nach dem Gipfel: Europa minus eins

Im Grunde ahnten die Briten schon, dass sie beim EU-Gipfel zur Euro-Rettung alleine dastehen würden. Und das taten sie dann auch. Die Geschehnisse einer historischen Nacht.

Der Mann am Rednerpult wird gleich zu Anfang prinzipiell. „Es kann und darf uns nicht gleichgültig sein, welchen Weg Europa geht: Ob es sich unwiderruflich auf den politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss festlegt oder ob es in nationale Rivalitäten früherer Zeiten zurückfällt!“ Das „unwiderruflich“ dröhnt geschichtsgewaltig durch die Halle. Der Mann am Rednerpult heißt Helmut Kohl. Der Düsseldorfer CDU-Parteitag im Oktober 1992 steht ganz im Zeichen des Vertrags von Maastricht, unter den der deutsche Kanzler ein halbes Jahr zuvor, am 7. Februar 1992, seine Unterschrift gesetzt hat.

„Unwiderruflich“ war damals schon ein großes Wort. 20 Jahre und eine lange Nacht später ist es zu groß geworden. Als Angela Merkel am Freitagmorgen nach elf Stunden aus dem Brüsseler Verhandlungsmarathon wieder auftaucht, hat sich Europa auf einen noch viel engeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss festgelegt als je zu Helmut Kohls Tagen. Aber es ist nicht mehr Kohls altes Europa. Einer fehlt.

Der Mann, der fehlt, lässt etwas auf sich warten. David Cameron muss sich erst mit seinen Leuten besprechen – mit William Hague zum Beispiel. Hague ist aus dem Bett geklingelt worden, kurz nach fünf Uhr früh eilt der britische Außenminister recht unbritisch in Jeans und Pulli in das Brüsseler Ratsgebäude. Hague war beim Nato-Rat, aber er ist in Brüssel geblieben, sicherheitshalber und für den Fall der Fälle. Der Fall ist da.

Mehr als eine Stunde dauert die interne Beratung, dann kommt Cameron in den britischen Pressesaal im zweiten Stock. „Bevor ich nach Brüssel kam, habe ich gesagt, dass ich keinem neuen Vertrag für Europa zustimmen werde, wenn ich nicht angemessene Schutzklauseln für Britannien bekomme“, sagt der britische Premier, die Flagge im Rücken. „Was angeboten wird, ist nicht in britischem Interesse. Also habe ich nicht zugestimmt.“

Das klingt einfach und logisch und irgendwie harmlos, dabei ist es eine historische Zäsur. Die Briten sind oft europäische Eigenbrötler gewesen. Sie haben an ihrem Pfund Sterling festgehalten und allen Eurokraten-Erlassen zum Trotz ihr Bier als Pint verkauft, das Glas à 0,568 Liter. Aber noch nie sind sie einen wesentlichen Schritt im vereinten Europa nicht mitgegangen. Selbst Maggie Thatchers Erben haben in Maastricht mit unterschrieben.

Cameron unterschreibt nicht. „Das ist eine harte Entscheidung, aber die richtige“, sagt der Brite. Er klingt dabei wie einer dieser jungdynamischen Manager, der der Belegschaft die Entlassungswelle verkündet. Nur ist der Unterschied, dass Cameron sich sozusagen aus dem Kreis der anderen selbst entlässt.

Ganz unerwartet kommt die Abspaltung ja nicht. Cameron hat in den Wochen vor dem Gipfel in den europäischen Hauptstädten seine Haltung erklärt, ob seine Gastgeber die hören mochten oder nicht. Das lief darauf hinaus, dass der Brite sich seine Zustimmung zu einer neuen europäischen Stabilitätsunion nur gegen britische Sonderrechte abhandeln lassen wollte - namentlich ein Veto- und Ausstiegsrecht gegen alle kontinentalen Bestrebungen, in die britische Arbeitsmarkt- und vor allem in die Finanzmarktpolitik hineinzuregieren.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Angela Merkel ein Königinnenkrone abgegeben hat.

Die City of London ist nicht nur der größte Finanzplatz des Kontinents, sondern auch der wichtigste Steuerzahler des Vereinigten Königreichs. Insofern haben sie auch in Paris und Berlin gesehen, dass Camerons Sorgen nicht ganz unbegründet waren . In Berlin gibt es sogar welche, die Mitleid mit dem Chef der Konservativen haben: „Der Mann steckt doch von allen Seiten im Schraubstock“, sagt einer.

Cameron führt mit den europafreundlichen Liberaldemokraten eine fragile Koalition, der die größte Gefahr aus den eigenen Reihen droht: ein knappes Hundert konservative Hinterbänkler, für die der Sammelbegriff „Euroskeptiker“ noch eine sehr freundliche Bezeichnung darstellt. Einer von denen, ein gewisser Mark Reckless, triumphiert am Freitagfrüh in der BBC denn auch: „Das gibt uns jetzt die Gelegenheit, mit der Europäischen Union eine neue Beziehung auszuhandeln!“ Und dann malt Mr. Reckless – was, nomen est omen, wahlweise mit „rücksichtslos“ oder „leichtsinnig“ zu übersetzen wäre – die Zukunft Britanniens als die einer Art Schweiz aus, die mit Rest-Europa nur noch die Geschäfte tätigt, die ihm nützen.

So also ist die Lage des David Cameron. Dass er sich selbst aus dem Schraubstock nicht befreien würde, war im Grunde klar, nachdem der Brite mit Merkel und dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy am Donnerstag ein Vorgespräch zu dritt geführt hatte. Dass die Deutsche und der Franzose genau so wenig nachgeben würden, war seit dem Moment am Mittwoch letzter Woche erkennbar, an dem ein deutscher Diplomat im Namen der Kanzlerin verkündete: „Wir machen keine faulen Kompromisse!“

Man muss dazu wissen, dass sich niemand erinnern kann, jemals vor einem Europa-Gipfel so einen Satz gehört zu haben. Europa galt immer als das Königreich der Kompromisse, und Angela Merkel war die ungekrönte Kompromisskönigin. Aber diesmal ist alles anders.

Was diesen Abschied vom Prinzip der ganz kleinen Schritte bewirkt hat, ist nicht ganz einfach zu erkennen. Immerhin lässt sich so viel sagen, dass Merkel irgendwann im Verlauf des Sommers für sich selber zu dem Schluss gekommen sein muss, dass im bisherigen Umgang mit der Euro-Krise prinzipiell der Wurm drin ist. Ein ums andere Mal haben die Euro-Spitzen auf Euro-Gipfeln Beschlüsse gefasst, ein Hilfspaket nach dem anderen abgesegnet, einen Finanzmarktberuhigungsmechanismus nach dem anderen. Stets waren alle erst mal euphorisch, die Finanzmärkte eingeschlossen. Dann kam wieder was dazwischen; mal ein italienischer Regierungschef, der plötzlich nicht mehr sparen mochte, mal ein griechischer Premier, der erst sein Volk befragen wollte. Und immer reichten die vielen Garantie-Milliarden nicht.

Irgendwann muss Merkel beschlossen haben, dass sie zur Abwechslung mal aufhören sollte, den Finanzmärkten auf deren eigener Ebene entgegen zu treten, und sich auf das Geschäft des Politischen zu besinnen. Wer sie in der Zeit erlebt hat, traf eine halb resignierte, halb finster entschlossene Kanzlerin – resigniert über Märkte, denen immer wieder Neues einfiel, um sich selbst verrückt zu machen, aber doch entschlossen, irgendwie einen Weg aus dem Dilemma zu finden.

Zu diesem Bild gehört im Sinne der Vollständigkeit allerdings auch der zarte Hinweis auf die zahlreichen innenpolitischen Fallstricke: Merkel hat eine von ihren Euroskeptikern gejagte FDP und eine mit Euroskepsis immer wieder spielende CSU am Hals, dazu den – in Teilen berechtigten – Ruf, in dieser Krise immer wieder angeblich unumstößliche Bastionen geräumt zu haben. Andere Bastionen hält sie, halb und halb, jedenfalls: Die Absage an eine „Transferunion“ erweist sich bei genauerer Betrachtung als ebenso wenig realitätstauglich wie die Festlegung darauf, dass die Europäische Zentralbank (EZB) eigentlich gar nicht tun dürfe, was sie tut: Staatspapiere klammer Staaten kaufen. Alle beten übrigens im Stillen, dass sie das weiter tut.

Lesen Sie auf Seite 3, was Cameron seinen EU-Partnern am Ende wünschte.

Merkel aber vertritt inzwischen eine Theorie, die sich etwa so zusammenfassen lässt: Wenn es stimmt, dass diese Krise außer mit Schulden sehr viel mit Vertrauen zu tun hat, dann muss dieses Vertrauen wieder hergestellt werden. Wenn es stimmt, dass die Märkte nicht glauben, dass dieses Europa sich und seine Währung verteidigt, dann muss Europa es den Märkten zeigen. Und das zeigt es am Besten, indem es etwas tut, was ihm keiner zugetraut hätte: eine richtig ernsthafte Sparpolitik mit einer richtig verbindlichen Vertragsänderung.

Ob alle die Staats- und Regierungschefs an diese Theorie glauben, die sich am Donnerstagabend zu Langustensuppe, Kabeljau an Wintergemüse und Schokotorte an den Brüsseler Konferenztisch setzen, das sei dahin gestellt. Die Inhalte des neuen Stabilitätspakts sind aber im Kern unstreitig – was Merkel und Sarkozy vereinbart haben, von europaweiter Schuldenbremse bis zu automatischen Sanktionen, wird ebenso gebilligt wie die Kleinigkeit von 200 Milliarden Euro, die als eine Art Umweg-Hilfe für klamme Euro-Staaten an den Internationalen Währungsfonds überwiesen werden.

Kurz vor zwei Uhr in der Früh aber geht es unter den 27 ans Eingemachte. Sind all das Schritte, die ganz Europa gemeinsam geht – oder bleibt es eine Sache einer Koalition der Willigen unter Führung der 17 Euro-Mitglieder? Merkel und Sarkozy wollten die große Lösung, eine Änderung des Lissabon-Vertrags. Eine große Lösung wäre ein großes Signal.

Aber es gibt keine große Lösung. Camerons letztes Angebot ist ein Vorschlag für ein Zusatzprotokoll: Die europäische Finanzaufsicht soll der britischen keine Weisungen erteilen dürfen. Das wäre etwas, was er seinen Euroskeptikern daheim als Trophäe hätte zeigen können. Aber die europäische Finanzaufsicht mit Sitz in Paris steht im Zentrum der Bemühungen der Europäer, den Casino-Kapitalismus einzudämmen. Ein Schutzschirm für die Londoner City würde eine radikale Kehrtwende darstellen. Merkel und Sarkozy winken ab.

„Wir konnten keine faulen Kompromisse machen“, wird die Kanzlerin später sagen. Aber auch Cameron bleibt hart. „Egal, welche neue Sprachregelung wir vorgeschlagen haben“, berichtet ein polnischer Diplomat, „er hat immer nur Nein gesagt.“ Man brüht frischen Kaffee, es gibt Obstsalat, doch alles hilft nicht. „Ich musste sehr verbissen für Britanniens Interessen kämpfen“, erzählt Cameron später, „was sehr schwierig ist in einem Raum, in dem alle dich bedrängen, etwas zu unterschreiben, von dem sie sagen dass es in unser aller Interesse sei.“

Einer gegen alle, wirklich alle. Am Ende des Tages sagen 26 Europäer prinzipiell Ja zu dem neuen Europa. „Wichtig ist: Wir sind nicht Großbritannien!“, hat ein ungarischer Diplomat schon in der Nacht versichert – die Ungarn wollten erst aussteigen, jetzt fragen sie vorher doch lieber ihr Parlament.

Merkel versucht den Vorgang niedrig zu hängen. „Die Briten waren ja schon immer nicht beim Euro dabei“, sagt die Kanzlerin. „Insofern sind wir mit diesem Zustand schon vertraut.“ „Insofern“ ist aber ein zu kleines Wort. Europa ist jetzt kleiner. Und Europa ist jetzt Merkels Europa – eins, das Sparsamkeit und Disziplin verspricht und inständig hofft, dass das mehr wert ist als alle Milliarden. „Wir wünschen ihnen alles Gute“, hat Cameron gesagt. Er klang sehr ernst dabei.

Robert Birnbaum, Christopher Ziedler

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