Treffen mit der Kanzlerin: Cameron streut Sand ins europäische Getriebe
Der britische Premier David Cameron besucht Angela Merkel. "Die nerven konstant", solche Bemerkungen sind auf europäischer Ebene zu hören - weil die Briten auch in der Krise immer wieder als Bremser auffallen.
Wenn heute der britische Premierminister David Cameron in Berlin der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begegnet, dann treffen auch zwei völlig gegensätzliche Positionen zur Zukunft Europas aufeinander. Die Kanzlerin will mehr Europa, eine engere Integration und schärfere Haushaltskontrollen. Deshalb drängt sie zunächst auf eine begrenzte EU-Vertragsänderung und will auch langfristig auf das Ziel einer „Politischen Union“ hinarbeiten. Cameron hat hingegen in dieser Woche bei einer außenpolitischen Grundsatzrede ganz andere Konzepte vorgestellt: Der britische Premier will eine lockerere EU, „mit der Flexibilität eines Netzwerks, nicht der Rigidität eines Blocks“. Cameron betonte die britische Skepsis gegenüber „großen Plänen und utopischen Visionen“. Während Merkel nicht ausschließen will, dass Deutschland eines Tages weitere Souveränitätsrechte aufgeben wird, stellte Cameron seiner inzwischen geschlossen euroskeptischen Nation in Aussicht, dass bei kommenden Vertragsänderungen in der EU Machtbefugnisse nach Großbritannien „zurückfließen“ würden.
Camerons Berlin-Besuch ist Teil eines ausgedehnten europäischen Reiseprogramms des Londoner Regierungschefs. Der Premier will in Berlin sondieren, was beim nächsten EU-Gipfel im Dezember auf ihn zukommt, wenn ernsthaft über die Reformen gesprochen wird, die von der Krise in der Euro-Zone erzwungen wurden. Gleichzeitig sucht er nach möglichen Verbündeten bei seinem Vorhaben, Kompetenzen wieder von Brüssel nach London zurückzuholen. Berlin ist der wichtigste Anlaufpunkt, weil hier die Weichen gestellt werden.
Bei dem Treffen in Berlin stehen drei Themen auf der Tagesordnung: erstens künftige EU-Vertragsänderungen und Reformen der europäischen Strukturen; zweitens die Finanztransaktionssteuer, die zu 80 Prozent den Londoner Finanzbezirk treffen und nach Londoner Darstellungen „Hunderttausende von Jobs“ in Europa kosten würde. Drittens soll es um die akute Schuldenkrise gehen. Das ist für Cameron der wichtigste Punkt, denn die Schuldenkrise weitet sich zur Wirtschaftskrise aus und zerstört nun das schwache britische Wirtschaftswachstum.
Dass sich die Stimmung in Großbritannien angesichts der Euro-Krise komplett gegen die EU gewendet hat, wird inzwischen selbst im Foreign Office, dem britischen Außenministerium, mit Besorgnis gesehen. Die Stimmung im Lande sei so aufgeheizt, dass eine größere Änderung des EU-Vertrages im Sinne eines engeren Zusammenschlusses der beteiligten Staaten mit London nicht zu machen sei, lautete jüngst eine Warnung britischer Diplomaten an die deutsche Adresse.
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In Brüssel gehen unterdessen EU-Diplomaten ganz offen mit den Briten wegen deren Haltung bei möglichen Änderungen des EU-Vertrages und der Einführung einer Finanztransaktionssteuer ins Gericht. „Es gibt inzwischen eine Reihe von Punkten, wo die Briten ganz stark bremsen“, berichtet ein deutscher Diplomat. Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, der seit zwei Jahren mit britischen Parlamentariern und Londoner Verhandlungspartnern im Ministerrat zu tun hat, nennt sie die „härtesten Vertreter der Finanzmarktlobby“. Die Europapolitiker von der Insel waren gegen eine europäische Finanzaufsicht, gegen eine europäische Kontrolle der Ratingagenturen, gegen strenge Auflagen für Hedgefonds, gegen das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen und Kreditausfallversicherungen. „Die nerven konstant“, sagt Giegold. Die Gesetze sind dementsprechend mit vielen Ausnahmen verwässert worden.
Eine zunehmende Blockadehaltung beobachten Diplomaten allerdings auch in der Alltagsarbeit und bei Themen, die etwas weniger im Fokus der Öffentlichkeit stehen. So will London derzeit etwa um jeden Preis vermeiden, dass die EU ein militärisches Hauptquartier bekommt, um Operationen wie etwa die Anti-Piraten-Mission „Atalanta“ am Horn von Afrika zu führen. Die Initiative stammt aus Deutschland, Frankreich und Polen, doch Großbritannien sagt Nein. Häufig wird auch verhindert, dass die EU bei Organisationen wie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) oder der Internationalen Arbeitsorganisation (Ilo) mit einer Stimme spricht. Regelmäßig lässt London klarstellen, dass die EU-Stellungnahme nicht im Namen „ihrer Mitgliedstaaten“ erfolge. Eine vermeintliche Petitesse, mit der London aber „auf den Stand vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags zurückfällt“, wie der deutsche Diplomat sagt. Ein Osteuropäer aus dem Kreis der 27 EU-Botschafter nennt die Briten deutlich derber „a pain in the ass“, was sich mit „Ärgernis“ nur unzureichend aus dem Englischen übersetzen lässt. Sein britischer Kollege verhalte sich „kindisch und selbstgerecht“. Auf der Insel müsse man „sich jetzt mal entscheiden“.
Bei aller Kritik sollen die Briten aber an Bord gehalten werden. Zuletzt hat Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) seinem Amtskollegen George Osbourne nahegelegt, sich zu bewegen, um den „Graben“ nicht noch tiefer werden zu lassen. Dahinter steckt die Einsicht, dass es „ohne oder gegen die Briten nicht möglich ist, Europa für die Globalisierung gut aufzustellen“, wie es in deutschen Regierungskreisen heißt.
Deutsche Diplomaten haben Cameron allerdings auch schon unmissverständlich signalisiert, dass die 17 Länder der Euro-Zone unabhängig von den 27 nach den Regeln der engeren Zusammenarbeit des Lissabon-Vertrags vorpreschen werden, wenn Cameron zu viel Sand ins Getriebe streut.
A. Meier, M. Thibaut, C. Ziedler