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Die politisch gewollte Entflechtung (Decoupling) von Chinas Wirtschaft ist ein Trugschluss.
© picture alliance / Patrick Pleul

Wer ist von wem abhängig?: Europa kann den USA und China Paroli bieten

Denn die wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind komplex und wechselseitig. Drei Schlussfolgerungen. Ein Gastbeitrag.

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Jörg Rocholl PhD, Präsident der Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Volker Perthes,, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Geraten Europas und insbesondere Deutschlands exportorientierte Unternehmen zwischen die Fronten, wenn der Konflikt zwischen China und den USA weiter eskaliert? Die Sorge gibt es, seitdem der Begriff „Decoupling“ Konjunktur hat.

Auf den ersten Blick ist das Bild düster

Auf den ersten Blick ergibt sich ein düsteres Bild großer Abhängigkeit: China ist  Deutschlands größter Handelspartner. So erzielen die 30 größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland im Schnitt 15 Prozent ihrer Umsätze in der Volksrepublik. Die deutschen Autohersteller erwirtschaften sogar mehr als 20 Prozent ihrer Erlöse in China. 

Übertroffen wird die Bedeutung Chinas für deutsche Exporte nur von den USA. Die USA sind der größte Abnehmer deutscher Waren, im vergangenen Jahr exportierten deutsche Unternehmen Waren im Wert von fast 120 Milliarden Euro in die USA. Schon diese Beispiele zeigen: Jede Verschlechterung der Beziehungen zu Peking und Washington trifft deutsche Unternehmen.

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Bei genauem Hinschauen aber hellt sich die Lage deutlich auf: Chinesische Unternehmen exportierten bisher nämlich in noch größerem Umfang nach Deutschland, als deutsche Unternehmen nach China exportieren. Im vergangenen Jahr waren das Waren im Wert von 110 Milliarden Euro. In der Europäischen Union kommen sogar 20 Prozent aller Importe aus China, mehr als aus jedem anderen Land.

Es gibt also keine einseitige, sondern eine wechselseitige Abhängigkeit – auch wenn Europas Bedarf an strategischen Rohstoffen wie etwa Seltene Erden, bei denen China Quasimonopolist ist, nicht gering geschätzt werden soll. Das Prinzip wechselseitiger Abhängigkeit gilt ebenso im Handel zwischen der EU und den USA: Immerhin zwölf Prozent aller EU-Importe kommen aus den USA. 

Schon diese wirtschaftlichen Interdependenzen deuten darauf hin, dass Europa gegenüber Peking und Washington durchaus politisch Flagge zeigen kann. Darüber hinaus ist die jahrelang gestiegene Zahl der Übernahmen europäischer Unternehmen durch chinesische Konkurrenten zuletzt deutlich gesunken – und zwar nicht nur wegen Corona. Vielmehr sehen europäische Regierungen solche Übernahmen zunehmend skeptisch und steuern entsprechend dagegen. 

Frankreich bietet den USA Paroli

Das vor allem von Frankreich vorangetriebene Projekt, große digitale Plattformunternehmen zu besteuern, signalisiert, dass Europa auch den USA politisch Paroli bieten kann. Die großen amerikanischen Plattformunternehmen gehören in puncto Marktkapitalisierung zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Sie erzielen große Teile ihrer Umsätze in Europa – und beobachten schon deshalb mit Argusaugen die regulatorischen und steuerlichen Entwicklungen auf dem Kontinent.

All das verdeutlicht, wie viel für alle Seiten auf dem Spiel steht. In der globalisierten Welt sind nicht nur europäische Unternehmen auf den Marktzugang in China und den USA angewiesen, sondern auch chinesische und amerikanische Unternehmen auf den Marktzugang in Europa. In der globalisierten Welt gibt es keine einseitige Abhängigkeit.

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Das gilt auch für das Verhältnis zwischen China und den USA. Es heißt zwar immer, Washington sei schon deshalb in hohem Maße von Peking abhängig, weil China durch den Kauf  amerikanischen Staatsanleihen zum größten Gläubiger der USA aufgestiegen ist. Doch wie glaubwürdig kann Peking tatsächlich damit drohen, den Kauf von US-Staatsanleihen einzustellen oder die Bonds sogar zu verkaufen, um Druck auf Washington auszuüben?

Damit würde China letztlich vor allem der eigenen Volkswirtschaft schaden, etwa durch eine ungünstige Entwicklung des Renminbi-Wechselkurses gegenüber dem Dollar oder einen massiven Wertverfall der amerikanischen Staatsanleihen im chinesischen Portfolio. Hinzu kommt: Durch die gigantischen Anleihe-Aufkaufprogramme der nationalen Notenbanken ist das chinesische Drohpotenzial weitgehend verpufft. Peking  wird gar nichts Anderes übrig bleiben, als auch künftig US-Staatsanleihen zu kaufen und Amerika so die Möglichkeit zu geben, weiterhin über seine Verhältnisse zu leben. 

Drei Schlussfolgerungen für die Dreiecksbeziehungen

Aus den komplexen (finanz-)wirtschaftlichen Dreiecksbeziehungen zwischen China, Europa und den USA ergeben sich für die kommenden Jahre mehrere Schlussfolgerungen: Erstens sind internationale Abhängigkeiten weitaus vielschichtiger, als sie auf den ersten Blick aus europäischer Perspektive erscheinen mögen. Das eröffnet Gestaltungsmöglichkeiten für intelligente Wirtschaftspolitik.

Zweitens muss Europa dringend weiter daran arbeiten, den gemeinsamen Binnenmarkt als Erfolgsprojekt der vergangenen 25 Jahre für die kommenden 25 Jahre weiter zu entwickeln. Drittens sollte Europa endlich mit einer Sprache sprechen, um gegenüber China und den USA Gehör zu finden. Wenn einzelne EU-Mitgliedstaaten ihre Interessen gegenüber Peking und Washington durchzusetzen versuchen, kommt einem unweigerlich das Bild von David und Goliath in den Sinn. Die Europäische Union als Gesamtheit hingegen könnte mit beiden Mächten auf Augenhöhe verhandeln.

Nicht zuletzt sollte die Europäische Union ihre Position nutzen, um mäßigend auf den Konflikt zwischen China und den USA einzuwirken. Es ist in jedem Fall besser, den Konflikt zu entschärfen, als über mögliche Reaktionen im Falle einer weiteren Eskalation zu reflektieren. Schließlich gilt nach wie vor das Prinzip, das der britische Ökonom David Ricardo schon vor mehr als  200 Jahren beschrieben hat: Vom gegenseitigen Handel, vom Geben und Nehmen, können alle  profitieren  – auch das Dreieck zwischen China, den USA und Europa.

Jörg Rocholl

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