Die EU und der drohende Brexit: Europa ist keine Insel
Die EU ist Großbritannien entgegengekommen, um den Brexit zu verhindern. Doch die Probleme der Union reichen weiter. Die Deutungshoheit über Reformen darf nicht in London liegen. Ein Essay.
Wer am Gare du Midi den Eurostar-Zug besteigt, erfährt, wie nah Brüssel und London beieinander liegen. Nach zwei Stunden, vier Minuten und der Unterquerung des Ärmelkanals ist die Fahrt von der europäischen in die britische Hauptstadt schon zu Ende. Politisch gesehen jedoch liegt eine kleine Weltreise hinter den Passagieren, von einem Paralleluniversum direkt ins andere.
Nichts verdeutlicht das so sehr wie die Zeitungslektüre am Morgen, nachdem in Brüssel die Reformvorschläge auf den Tisch gelegt wurden, mit denen die Briten vom Verbleib in der Europäischen Union überzeugt werden sollen. Womöglich noch vor den Sommerferien steht eine Volksabstimmung an, die ihnen Premierminister David Cameron versprochen hat. Falls alle europäischen Staaten die mit ihm abgestimmten Pläne gutheißen – vielleicht schon beim Gipfeltreffen des Europäischen Rates in der kommenden Woche – will er für ein Ja zur EU werben.
Die Presse auf dem „Kontinent“ jedenfalls, wie die Engländer zu sagen pflegen, um sich schon allein sprachlich abzugrenzen, ist mehrheitlich der Meinung gewesen, dass EU-Ratspräsident Donald Tusk erstaunlich viele britische Forderungen übernommen hat. So wäre eine Diskriminierung von EU-Bürgern bei den Sozialleistungen in den ersten Jahren ihres Aufenthalts möglich, an den Nachwuchs im Ausland würde nicht mehr der volle Kindergeldsatz gezahlt. Das ist durchaus schmerzhaft für jene, denen es etwas bedeutet, dass wir seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 nicht mehr nur Franzosen, Spanier, Briten oder Deutsche sind, sondern auch Unionsbürger mit eigenen Rechten.
Was jedoch tut man nicht alles für einen Kompromiss? Verlieren könnte ja nicht nur das United Kingdom. Die europafreundlichen Schotten drohen offen damit, bei einem EU-Austritt ihrerseits das Vereinigte Königreich zu verlassen. Wirtschaftlich drohen unruhige Zeiten, da viele ausländische Investoren den britischen Zugang zum EU-Binnenmarkt schätzen, den sich London in Verhandlungen aber erst wieder sichern müsste. Wie die Schweiz oder Norwegen müssten sie dafür zahlen, ohne ein Mitspracherecht bei den Regeln zu haben. Die Europäische Union wiederum ginge nicht nur ihrer zweitgrößten Volkswirtschaft verlustig, sondern auch des außenpolitischen Gewichts der Veto-Macht im Weltsicherheitsrat – in einer Zeit, da sie von Moskaus Machthaber Wladimir Putin ebenso herausgefordert ist wie von den Kriegen in Nahost und Nordafrika.
Damit nicht genug. In allzu vielen EU-Staaten wartet die populistische oder extremistische Rechte sehnlichst darauf, dass Großbritannien ihnen als Vorbild für den Austritt aus dem verhassten europäischen Club dienen kann: „Dann“, hat der Brüsseler Kommissar Günther Oettinger gerade gewarnt, „werden andere folgen.“
Ganz anders die Morgenlage an Londons Kiosken. Viele Hinterbänkler aus Camerons Tory-Partei tun solche Szenarien als Panikmache ab und sind empört, dass der Parteichef aus ihrer Sicht, viel zu wenig herausgeholt hat in Brüssel. Die moderaten Zeitungen „Guardian“ und „Financial Times“ berichten nüchtern darüber, gehen aber unter im Gewitter der Massenblätter, die sich den Zorn der EU-Skeptiker zu eigen machen. „Wen glaubst du verarschen zu können?“ titelt die „Sun“, an den Premier gewandt. Von einem „bizarren Kompromiss“ schreibt die „Daily Mail“.
Es völlig legitim, Nachbesserungen zu fordern
Das Nein-Lager nimmt dem Premier übel, dass er sich in den Verhandlungen noch nicht zu 100 Prozent durchgesetzt, keine absolute Sozialleistungssperre für EU-Ausländer und auch kein Vetorecht für das britische Unterhaus gegen unliebsame EU-Gesetze erwirkt hat. Vielmehr soll die „rote Karte“ nur gelten, wenn mindestens 16 nationale Parlamente dieselben Bedenken hegen. Entsetzt wird resümiert, damit könnten auch Vorschläge gestoppt werden, die im britischen Interesse liegen. Und überhaupt werde die britische Souveränität nicht wieder voll hergestellt.
Wer so denkt, will keine bessere, sondern gar keine EU. Sie fußt darauf, dass ihre Mitglieder freiwillig Teile ihrer Souveränität abgeben und bündeln – einst um sich nicht mehr bekriegen zu können, heute um auf der Weltbühne politisch wie wirtschaftlich mehr zu erreichen. Die britischen Gegner bringen nun vor, dieses Konzept sei der Bevölkerung gänzlich unbekannt gewesen, als sie 1975, ebenfalls per Volksabstimmung, den Beitritt, der zwei Jahre zuvor erfolgt war, nachträglich absegnete. Einzig um einen gemeinsamen Markt ohne politische Vereinigung ging es freilich damals schon nicht mehr. Richtig ist dagegen, dass die Gemeinschaft über die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Lissabon noch viel stärkere bundesstaatsähnliche Züge verpasst bekam.
Insofern ist es völlig legitim, Nachbesserungen zu fordern, weil auf dem langen Weg in Richtung mehr Europa nicht alles richtig gemacht wurde. Die Konstruktionsfehler haben sich zuletzt besonders deutlich gezeigt: Das Asyl- und Grenzregime ist der aktuell so hohen Zahl von Flüchtlingen nicht gewachsen. Davor stellte sich heraus, dass die Einheitswährung ohne abgestimmte Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik allein mit Notmaßnahmen erhalten werden konnte, die nur notdürftig oder im Nachhinein legitimiert wurden. Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat einmal von einem brennenden Flugzeug gesprochen, das in der Luft repariert werden musste. Warum also nicht, um im Bild zu bleiben, landen und im Hangar eine Generalüberholung durchführen?
Das Problem an Camerons Reformvorstoß sind die Motive dahinter. Mit der Referendumszusage wollte der Premierminister seine innerparteilichen Gegner ruhigstellen, die ihn nun als großen Pro-Europäer verunglimpfen, was er nie war. Vor sich her getrieben werden sie dabei seit Jahren vom äußerst eloquenten Nigel Farage, der mit einem harten Anti-EU- und Anti-Migrationskurs rechts von den Tories die Unabhängigkeitspartei Ukip etabliert hat.
Zwei europapolitische Zwerge dominieren somit den Diskurs auf der Insel: Der kleinere, Farage, will um jeden Preis raus aus der EU; der größere, Cameron, hat selbst so oft „Brüssel“ zum Feindbild stilisiert, dass er es schwer haben wird, glaubhaft für den Verbleib zu werben. Das haben ihm eher die Regierungschefkollegen und die britische Wirtschaft nahegelegt. So spiegeln seine Reformideen nicht das, was Europa, sondern was Cameron braucht. Schnittmengen gibt es trotzdem. Sicher muss die EU das Potenzial ihres Binnenmarkts besser ausschöpfen, um wirtschaftlich bestehen zu können – noch existieren zu viele Hürden im Alltag. Auch das Stichwort „Subsidiarität“ ist gut gewählt: Im Graubereich dessen, was europäisch und was national geregelt wird, leidet die parlamentarische Kontrolle. „Wenn Großbritannien fordert, die EU müsse demokratischer, transparenter, wettbewerbsfähiger und weniger bürokratisch werden“, hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gerade in einer Rede an der London School of Economics gesagt, „dann bin ich dabei“.
Viele der britischen Reformvorschläge jedoch sind rein innenpolitisch begründet und behandeln Phantomschmerzen. So ist es schlicht unnötig, festzuschreiben, dass es in der EU mehrere Währungen gibt. Die britische Ausnahme vom Euro in den Verträgen kann ohnehin nicht gegen Londons Willen aufgehoben werden. Auch die Klarstellung, dass die „immer engere Union“ aus Artikel 1 keinen Integrationsautomatismus darstellt, gehört eher ins Reich der Symbolpolitik, löst keine Probleme, sondern sendet nur das von London gewünschte Anti-EU-Signal aus. Das liefert auch die „Notbremse“ bei den Sozialleistungen, die dem Londoner Schatzamt umgerechnet rund eine Milliarde sparen könnte – auf Kosten des europäischen Gedankens.
Cameron denkt nicht groß genug
Es ist also ein sehr spezielles Menü, das der britische Koch den europäischen Gästen hier auftischt. In seinem „Europa à la carte“ pickt sich jeder nur das heraus, was ihm schmeckt. David Cameron bereitet letztlich ein Rezept für immer weniger Europa zu.
Beschränken sollten sich die Reformen darauf aber nicht – auch wenn es in diesen Zeiten durchaus populär ist. „Man sollte die britische Debatte nutzen für eine generelle Diskussion“, meint der deutsch-britische CDU-Europaabgeordnete David McAllister, „wie sich die EU in Zukunft insgesamt besser aufstellen kann.“ Gerade die Währungsunion, deren Mitglieder sich über das gemeinsame Geld auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden haben, braucht zum Überleben mehr Europa, mehr gemeinsame Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Schon jetzt klafft die ökonomische Entwicklung der Länder zu weit auseinander, wird der Graben mit „Rettungskrediten“ und dem billigen Geld der Europäischen Zentralbank (EZB) nur zugekleistert. Ohne eine echte wirtschaftliche Angleichung aber hat die EuroZone auf lange Sicht keine Chance.
So denken viele der politischen Akteure in der EU – nicht zuletzt Kanzlerin Angela Merkel. Ein ums andere Mal wurde mit Verweis auf den Krisenmodus – gerade sind es die Flüchtlinge – eine grundlegende Vertragsänderung verschoben. Aber wird die Lage je günstig sein? Bedingen die der EU und der Euro-Zone zugrunde liegenden Baumängel nicht die aktuellen Probleme?
Ohne klar getrennte Zuständigkeiten, wer was entscheidet und kontrolliert in Europa, wird das Transparenz- und Demokratiedefizit den Populisten weiter Munition liefern. Ohne ein Parlament für die Euro-Zone – ob nun mit europäisch oder national gewählten Abgeordneten –, werden Spar- und Reformmaßnahmen etwa in Griechenland immer als Brüsseler Diktat aufgefasst werden. Entscheidungen der Euro-Finanzminister oder der „Troika“ von EU-Kommission, EZB und Internationalem Währungsfonds müssen überwacht und gegebenenfalls geändert werden können. Das ist die Voraussetzung für mehr Verbindlichkeit der in Brüssel gefassten Beschlüsse, wie es sie in Wettbewerbs- und Binnenmarktfragen heute schon gibt. Ohne sie wird die Union ihre Probleme nicht lösen. Auch ein sozialeres Europa, um die Menschen wieder für die EU zu gewinnen, ist damit nicht zu machen.
Da ist es arg problematisch, dass Cameron eine Art Veto verlangt, mit dem Nicht-Euro-Länder weitere Integrationsschritte im Euro-Raum aufhalten könnten. Ein Grund mehr, nicht ihm allein die Deutungshoheit in der Reformdebatte zu überlassen. Es geht um Europas Zukunft und nicht nur um die der Tories. Die britische Frage muss gelöst werden – aber nicht um den Preis, dass es für die noch größere europäische Frage keine vernünftige Antwort mehr gibt.
So sehen nicht wenige die EU auf dem Weg, zu einer leeren Hülle zu verkommen. In der Flüchtlingsfrage bastelt Kanzlerin Merkel an einer „Koalition der Willigen“. Und Frankreichs Staatspräsident François Hollande ist gerade vom linken Starökonomen Thomas Piketty aufgefordert worden, die Neugründung eines Kerneuropa mit neuen, voll verantwortlichen Institutionen voranzutreiben: „Allein das wird ausreichen, um den hasserfüllten nationalistischen Impulsen etwas entgegenzusetzen, die heute ganz Europa bedrohen.“ Diese Einschätzung muss man nicht teilen, eines aber ist sicher: Cameron denkt nicht groß genug.