Flüchtlingskrise: EU will nicht für Ungarns Grenzzaun zahlen
Ungarn schützt laut Orban "ganz Europa vor der Flut illegaler Migranten". Die EU-Kommission beharrt darauf, dass es für Grenzzäune keine Zuschüsse gibt.
Die EU-Kommission hat einen Vorstoß des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban zurückgewiesen, der von der Brüsseler Behörde nachträglich eine millionenschwere Unterstützung für den Bau eines Grenzzauns auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise gefordert hatte. „Die EU finanziert nicht den Bau von Zäunen oder Sperren“, sagte ein Sprecher der Kommission am Freitag in Brüssel. Auch in Berlin stieß Orbans Idee auf Kritik. „Solidarität kann nie extrem selektiv gesehen werden“, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert mit Blick auf die Weigerung Ungarns, sich an der Umverteilung von Flüchtlingen in der EU zu beteiligen.
Zuvor hatte Orban in einem Brief an EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker geschrieben, dass es „vernünftig“ sei, wenn die EU die Hälfte der Kosten für die Errichtung des Zauns an den Grenzen zu Serbien und Kroatien übernehme. Orban bezifferte die Gesamtkosten für den Zaunbau, der im Herbst 2015 begann, auf insgesamt 883,2 Millionen Euro.
„Mit dem Bau des Zauns, der Ausbildung und Indienststellung von 3000 Grenzjägern schützt unser Land nicht nur sich selbst, sondern ganz Europa gegen die Flut von illegalen Migranten“, schrieb Orban an Juncker. Es sei „keine Übertreibung, zu sagen, dass die Sicherheit der europäischen Bürger von den ungarischen Steuerzahlern finanziert wurde“, hieß es in dem Schreiben Orbans weiter.
EU-Gelder für Grenzüberwachung mit Wärmebildkameras
Die EU-Kommission hat den Bau von Zäunen zur Flüchtlingsabwehr stets abgelehnt. So zeigte sich Juncker im Oktober 2015 gemeinsam mit dem damaligen österreichischen Regierungschef Werner Faymann einig, dass „Zäune keinen Platz in Europa haben“. Später änderte sich allerdings auch auf EU-Ebene die Tonlage in der Flüchtlingspolitik. So sprach sich EU-Ratschef Donald Tusk im November 2015 in Berlin für den verstärkten Schutz der EU-Außengrenzen aus. „Europa ist nicht in der Lage, alle Menschen aufzunehmen, die zu unserem Kontinent kommen wollen“, sagte er damals. Vor diesem Hintergrund gibt es unter anderem EU-Gelder für die Grenzüberwachung mit Wärmebildkameras.
Orban will vor allem Punkte sammeln in der Debatte um die EU-Flüchtlingspolitik
Allerdings geht es bei der von Orban angezettelten Neuauflage des Streits um den ungarischen Grenzzaun nur vordergründig ums Geld. Orban möchte als Chef der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz mit seiner Initiative offenbar Punkte in der Debatte um die europäische Flüchtlingspolitik sammeln. Denn die Diskussion um die europäische Lastenteilung in der Flüchtlingspolitik ist noch nicht beendet, auch wenn inzwischen kaum noch Flüchtlinge über die so genannte Balkanroute nach Mitteleuropa kommen. Zu dieser Entwicklung hatten vor allem die Schließung der Route an der griechisch-mazedonischen Grenze und der Abschluss des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei im März 2016 beigetragen. Dennoch geht die Flucht über das Mittelmeer weiter; in diesem Jahr wurden bislang rund 120.000 Flüchtlinge in Italien, Spanien und Griechenland registriert. Damit stellt sich weiterhin die Frage, wie die Ankunftsländer bei der Aufnahme von Flüchtlingen entlastet werden könnten – auch wenn nur die wenigsten von den Migranten, die in diesem Sommer von Libyen über die zentrale Mittelmeer-Route nach Italien gekommen sind, für die Umverteilung infrage kommen. Der Grund: Die meisten Flüchtlinge auf der zentralen Mittelmeerroute kommen aus Ländern wie Nigeria, Senegal, Guinea, Bangladesch und Pakistan. Sie haben damit kaum Chancen auf Asyl in der EU.
Die osteuropäischen Staaten der Visegrad-Staaten – Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei – hatten indes vor einem Jahr die Idee einer „flexiblen Solidarität“ ins Spiel gebracht: Wer mehr für den gemeinsamen Grenzschutz der Europäer tue, müsse weniger Flüchtlinge aufnehmen, erklärten sie.
Ungarn und Slowakei droht Niederlage vor dem EuGH
Nicht zuletzt dient Orbans Vorschlag dazu, trotz einer drohenden Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof für seinen harten Kurs in der Flüchtlingspolitik zu werben. Am kommenden Mittwoch entscheidet das Gericht über die Klagen Ungarns und der Slowakei, die gegen einen Beschluss der EU-Innenminister vom September 2015 geklagt hatten. Damals hatten die Minister per Mehrheitsentscheidung festgelegt, dass die EU-Länder einen Anteil aus einem Kontingent von 120.000 Flüchtlingen aufnehmen und damit die beiden Ankunftsländer Griechenland und Italien entlasten sollten. Dagegen sperren sich Ungarn und die Slowakei bis heute. Im Juli hatte der zuständige Generalanwalt am EuGH dafür plädiert, die Klagen der beiden Länder abzuweisen.
Gerade einmal 27 428 Asylbewerber wurden umverteilt
Bisher sind 27.428 Asylbewerber von Italien und Griechenland seit September 2015 auf andere Mitgliedstaaten umverteilt worden. Kritiker werten diese Zahl als Beleg dafür, dass das Umverteilungsprogramm gescheitert ist. Allerdings hat man in der Praxis erkennen müssen, dass in Griechenland und Italien gar nicht so viele Flüchtlinge angekommen sind, wie ursprünglich angenommen. So schätzt die EU-Kommission, dass aktuell noch rund 3800 Menschen in Griechenland sind, die auf die Umverteilung warten. In Italien ist die Lage etwas anders: Dort kommen täglich neue Flüchtlinge an, die für die Umverteilung infrage kommen. Nur kommen die italienischen Behörden nach Lesart der Brüsseler EU-Kommission mit der Registrierung der Flüchtlinge nicht hinterher. So geht man davon aus, dass rund 10.000 Eritreer – eigentlich Kandidaten für die Umverteilung – in Italien noch nicht registriert worden sind.
Das Programm zur Umverteilung der Flüchtlinge läuft Ende September aus. Die Pflicht der EU-Mitgliedstaaten, sich zu beteiligen, endet damit allerdings nicht. Alle Menschen, welche die Asylkriterien erfüllen und noch bis zum 26. September in Griechenland und Italien ankommen, kommen für das Programm infrage. Für die Zeit danach hat die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten Vorschläge unterbreitet, um das Asylsystem in der EU zu reformieren. Im Grunde soll es bei der Dublin-Regelung bleiben, der zufolge politisch Verfolgte in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie erstmals EU-Boden betreten. Wenn dann eine akute Flüchtlingskrise auftritt, soll ein EU-weites Verteilsystem greifen, dem der im September 2015 entwickelte Notfallmechanismus als Blaupause dient. Nun liegt der Ball bei den Mitgliedsländern. Sie müssen entscheiden, ob sie zustimmen wollen.
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