Westbalkan-Konferenz in Paris: EU muss Balkanstaaten Perspektiven aufzeigen
Im Nebel der EU-Krise ist die Beitrittsperspektive der Westbalkanstaaten nicht mehr auszumachen. Trotz Brexits darf die Bedeutung dieser Länder für die Stabilität der EU jedoch nicht vergessen werden. Ein Gastbeitrag.
Im Jahr 1992 wurde die Fußballmannschaft Jugoslawiens wegen des Krieges in diesem Land aus dem EM-Turnier ausgeschlossen. Dänemark rückte an Jugoslawiens Stelle und wurde sensationell Europameister. Nur Tage zuvor hatten die Dänen gegen den Maastrichter Vertrag gestimmt und dadurch die schnelle Vertiefung der europäischen Integration ausgebremst. Neben der Europäischen Währungsunion widerstrebte der Mehrheit der dänischen Wählerschaft damals die Erweiterung der Gemeinschaftspolitik auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Infolge des »Nej« zur vertieften Integration wurde die Fähigkeit der EU, als politischer Akteur in Südosteuropa aufzuspielen, deutlich geschwächt. Die EU-Staaten scheiterten damals als Schlichter im Jugoslawien-Krieg. Erst als die USA einschritten, konnten Zerstörung und Gewalt gestoppt werden. Seitdem gilt die Eingliederung des post-jugoslawischen Raumes als Prüfstein für die externe Handlungsfähigkeit der Union und ihre Ambition, für dauerhaften Frieden in Europa zu sorgen.
Im Jahr 1993 einigten sich die EU-Staaten auf einen Plan zur Öffnung der Europäischen Gemeinschaft der zwölf Länder für neue Mitglieder. In der dänischen Hauptstadt Kopenhagen verabredete der krisengeschüttelte Europäische Rat die wichtigsten Beitrittskriterien: Zukünftige EU-Mitglieder müssen Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft garantieren. Beim Gipfel in Thessaloniki 2003 schließlich wurde die »Beitrittsperspektive« für den Westbalkan verkündet und eine Mitgliedschaft fest in Aussicht gestellt. Diese Perspektive ist im Nebel der Krisen der europäischen Integration nicht mehr auszumachen.
Dennoch kommen, just vor dem Halbfinale der diesjährigen Fußball-EM, auf Einladung François Hollandes am 4. Juli die Regierungschefs der Westbalkanländer sowie der EU-Mitglieder Deutschland, Italien, Kroatien, Österreich und Slowenien in Paris zusammen. Auch der EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sind mit von der Partie. Die Menschen in den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien und in Albanien hoffen, dieses Mal nicht aus dem Spiel genommen zu werden.
Wie weiter mit der EU-Erweiterungspolitik?
Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, Albanien, Kosovo und Serbien wollen in die EU. Die Länder teilen viele strukturelle Probleme in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Ihre Bemühungen, die politischen und ökonomischen Kriterien für den EU-Beitritt zu erfüllen, kommen, auch infolge der europäischen Finanz- und Schuldenkrise seit 2009, nur mit Mühe voran. Im August 2014 hat deshalb Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem ersten Treffen der Westbalkanländer in Berlin eingeladen. Die Konferenz fand unter dem Eindruck der Krise in der Ukraine und der Zuspitzung der Spannungen mit Russland statt. Die EU musste geopolitisch Flagge zeigen. Obwohl es viele Vorbehalte gegen weitere Beitritte gibt, durfte kein Zweifel an der EU-Perspektive für die Region entstehen. Auch die Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges verstärkten das Interesse an einer dauerhaften Friedensordnung des Balkans in der EU. Die als »Berlin-Prozess« bezeichnete Initiative sollte die Länder bis 2018, zum hundertsten Jahrestag des Weltkriegsendes, auf ihre Zukunft in der EU vorbereiten. Nach einem weiteren Treffen in Wien im Sommer 2015 markiert jetzt Paris die Halbzeit in diesem diplomatischen Spiel. Der Abschluss 2018 sollte ursprünglich in Großbritanniens stattfinden.
Mit dem Brexit dürfte nicht nur dieser Tagungsort, sondern auch die Erwartung in EU und Beitrittsländern abhandengekommen sein, dass die Erweiterungspolitik die gewünschten Ergebnisse liefern kann. An der geostrategischen Bedeutung des Westbalkans für die EU und das transatlantische Bündnis hat sich aber nichts geändert – im Gegenteil: Angesichts der Ungewissheit, wie sich das westliche Verhältnis mit Russland weiterentwickeln wird, ist die Anbindung des Westbalkans an die EU wichtiger als je zuvor. Die illustre Gesellschaft in Paris sollte sich deshalb eindeutig zur Erweiterung der EU im Westbalkan bekennen und klären, wie es weitergeht. Vor allem müssen die Projekte, die im Rahmen des Berliner Prozesses angestoßen wurden, mit Ergebnissen aufwarten. In der zweiten Halbzeit sollten Tore fallen.
So verfolgt die EU erklärtermaßen den Plan, bilaterale Auseinandersetzungen wie etwa Grenzstreitigkeiten zwischen den Ländern zügig beizulegen. Ungeklärte Beziehungen, so wird befürchtet, könnten sonst später den Beitrittsprozess blockieren. Das wichtigste Vorhaben in diesem Zusammenhang, der »Normalisierungsprozess« zwischen Belgrad und Priština, ist seit dem letzten Herbst allerdings weitgehend zum Stillstand gekommen, ohne dass die EU energische Wiederbelebungsversuche unternommen hat. Eine nachhaltige Einhegung dieses Konflikts wird auch ein entscheidender Test der gerade vorgestellten »Globalen Strategie« der EU sein.
Gründung eines Balkan-Jugendwerks
Priorität soll im Berliner Prozess auch die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung bekommen, insbesondere durch eine bessere Verzahnung der Infrastrukturen der Westbalkanländer untereinander und mit der EU. Denn ohne zusätzliches, durch Produktivitätssteigerungen in der Region erzeugtes, Wachstum wird der Westbalkan nicht zur EU aufschließen können. Die EU setzt daher auf die Bereiche Verkehr und Energie, mit denen die Region für Investitionen weiter geöffnet werden soll. Dies allein dürfte jedoch nicht reichen, wie die schleppende wirtschaftliche Erholung in der Region zeigt. Deswegen benötigen die Länder schon jetzt – noch vor dem Beitritt – Zugang zu den EU-Strukturfonds, die kleinen und mittleren Unternehmen zu Innovation und Kapital und die Menschen zum europäischen Arbeitsmarkt. Am eigenen Schopf werden sie sich niemals aus der ökonomischen und sozialen Stagnation ziehen können.
Mindestens eine wichtige Weichenstellung ist am Montag in Paris zu erwarten. Inspiriert vom Deutsch-Französischen Jugendwerk wollen die Regierungen der Westbalkanländer ein Balkan-Jugendwerk mit Sitz in Tirana gründen. Durch Begegnungen und Austauschprogramme, die auch Auszubildenden offenstehen, sollen sich die jungen Menschen in der Region besser kennenlernen, Vorurteile abbauen und gemeinsame Projekte entwickeln. Wie wichtig junge Menschen für die Zukunft der europäischen Integration sind, hat das Referendum in Großbritannien gerade erst wieder gezeigt – eine überwältigende Mehrheit der jungen Wähler hat für den Verbleib in der EU gestimmt.
Dušan Reljić forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu aktuellen Entwicklungen im Westbalkan. Er leitet das Brüsseler Büro der SWP. Tobias Flessenkemper leitet die Südosteuropa-Projekte des »Centre international de formation européenne« (CIFE) in Nizza. In den Jahren 2012-13 war er Gastwissenschaftler an der SWP. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik "Kurz gesagt".
Tobias Flessenkemper, Dušan Reljić
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