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Mehr als eine Million Einwohner des Küstenstreifens sind auf Hilfe Lebensmittellieferungen angewiesen.
© Ali Ali/picture-alliance/ dpa

Interview zur Situation in Gaza: "Es kann jeden Moment in Gaza knallen"

Matthias Schmale vom UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge über Kriegsgefahr, Hoffnungslosigkeit und den Wettlauf gegen die Zeit - ein Gespräch.

Herr Schmale, wie würden Sie die Lage in Gaza in einem Satz zusammenfassen?

Puh, in einem Satz ist das sehr schwierig. Vielleicht in zwei Sätzen: Die Situation ist außerordentlich besorgniserregend. Es kann jeden Moment knallen.

Was bedeutet „knallen“?

Das heißt, entweder massive soziale Unruhen oder Krieg mit Israel. Wir standen in der vergangenen Woche mehrfach kurz vor einem bewaffneten Konflikt. Die Raketen fliegen hin und her. Das erhöht die Gefahr, dass Menschen auf beiden Seiten zu Schaden kommen. Die Sache schaukelt sich hoch. Wenn das so weitergeht, erleben wir bereits bald den nächsten Krieg.

Aber nicht zuletzt israelische Militärs äußern sich recht besonnen, wollen einen Krieg verhindern, oder?

Stimmt. Gerade auf der Führungsebene wird weder von der Hamas noch von Israel Krieg gewollt. Doch das Risiko bei diesem Poker – dem anderen die eigene Stärke demonstrieren –, dass etwas schiefgeht, ist immens. Auf beiden Seiten wird mit Feuer gespielt.

Was bedeutet das für Gazas Einwohner?

Zunächst muss man festhalten: Seit dem Beginn der Proteste an der Grenze zu Israel im März sind 14.000 Menschen verletzt worden, 140 kamen ums Leben. Das hat bei den Menschen zu einer großen Verunsicherung und Sorgen geführt. Denn das waren weitgehend friedliche Proteste.

Extremisten der Hamas haben den Grenzzaun attackiert!

Richtig, in Gaza passiert nichts ohne Duldung oder eine Beteiligung der Hamas. Man täte allerdings den Teilnehmern des Marschs auf den Zaun Unrecht, würde ihr Protest nur auf die Gewalt reduziert werden. Vor allem die vielen Tausend jungen Leute wollten der Welt zeigen, welche Sorgen und Nöte sie haben. Und dass endlich eine politische Lösung gebraucht wird.

Wie schätzen Sie die Stimmung ein?

Die Gazaner sind frustriert durch eine schon fast zwölf Jahre anhaltende Blockade. Es gab drei Kriege und nun die Demonstrationen, die nichts gebracht haben – die Hoffnungslosigkeit ist sehr, sehr groß. Jetzt hat Israel nochmals die Grenzkontrollen verschärft und die Einfuhr von wichtigen Gütern wie Treibstoff eingeschränkt. Was erhebliche Folgen hat. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Arbeitslosigkeit und Armut nehmen zu. Immer mehr Menschen versuchen, den Küstenstreifen zu verlassen. Auf welchen Wegen auch immer.

Vor wenigen Monaten, als die Islamisten der Hamas und die säkulare Fatah von Palästinenser-Präsident Abbas über eine Versöhnung verhandelten, gab es noch so etwas wie Zuversicht. Ist die verflogen?

Ja, das sehe ich so. Zwar gibt es ein paar Hoffnungsschimmer. Zum Beispiel, dass wir als Flüchtlingshilfswerk nach wie vor – trotz aller Finanznöte – Lebensmittel verteilen können. Aber von Optimismus kann wirklich keine Rede sein. Im Gegenteil. Und der Druck auf die Vereinten Nationen steigt.

Matthias Schmale ist höchster Repräsentant des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge in Gaza. Er organisiert die Hilfe der Vereinten Nationen im Küstenstreifen.
Matthias Schmale ist höchster Repräsentant des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge in Gaza. Er organisiert die Hilfe der Vereinten Nationen im Küstenstreifen.
© Wissam Nassar/dpa

Inwiefern?

Im Gazastreifen gibt es rund 50.000 Angestellte der Palästinensischen Autonomiebehörde, die ihr Geld aus Ramallah erhalten. Doch deren Gehälter wurden in den vergangenen Monaten gar nicht oder nur stark gekürzt ausgezahlt. Sollten die Zahlungen ganz eingestellt werden, könnten die Betroffenen von uns Nahrungsmittelhilfe einfordern. Wir versorgen schon heute etwa eine Million Bedürftige. Das dürften dann deutlich mehr werden.

Die USA haben einen Teil ihrer finanziellen Hilfe für die Palästina-Hilfe der UN eingefroren, weil sie Reformen fordern. Macht sich das bereits bemerkbar?

Durchaus. Ich werde zum Beispiel einigen unserer Mitarbeiter erklären müssen, dass wir ihre Verträge nicht verlängern können. Und: Unser Geldtopf für die humanitäre Hilfe ist leer. Deshalb kommen wir nicht umhin, finanzielle Mittel umzuschichten beziehungsweise einige Programme wie die zur psychologischen Unterstützung vorerst einzustellen. Auf jeden Fall hat die Lebensmittelhilfe höchste Priorität.

Welches Szenario halten Sie für die kommenden Monate für wahrscheinlich?

Die zentrale Frage lautet: Können wir die Menschen auch künftig mit Nahrung versorgen? Gelingt das nicht, es hätte fatale Auswirkungen. Wir können ebenfalls nicht gewährleisten, dass die 275 Schulen unter UN-Verwaltung nach den Ferien Ende August wieder aufmachen. Das betrifft 270.000 Kinder. Stellen Sie sich vor, dann gebe es auf Gazas Straßen plötzlich 270.000 Mädchen und Jungen, die nichts Gescheites machen! Das bedeutet nicht zuletzt ein erhebliches Sicherheitsrisiko. Alles in allem ist das ein Wettlauf gegen die Zeit. Es muss sich rasch Grundlegendes tun. Sonst fliegt das Ganze schon bald in die Luft.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

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