Knapp 700 Tote dieses Jahr: Es gibt nur eine Möglichkeit, um mehr Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu retten
Seenotrettung kann nicht von Schiff zu Schiff entschieden werden. Willige EU-Länder müssen jetzt schnell eine Hilfs-Allianz bilden. Ein Gastbeitrag.
Lucas Rasche ist Policy Fellow am Jacques Delors Institut Berlin und arbeitet dort zur Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union.
Insgesamt 17 Tage mussten die im Mittelmeer geretteten Migranten an Bord der Sea-Watch 3 ausharren, bis das Schiff von Kapitänin Carola Rackete am 29. Juni im Hafen von Lampedusa anlegte, obwohl die italienischen Behörden genau das verboten hatten. Sie habe die „Sicherheit der Menschen nicht länger garantieren“ können, beschrieb Rackete später die Lage an Bord ihres Schiffs. Als dennoch kein EU Staat anbot, die Geflüchteten aufzunehmen, habe ihre Entscheidung festgestanden: „Ich lege jetzt an, over.“
Was dann folgte, steht beispielhaft für das europäische Dilemma im Umgang mit den in Seenot geretteten Migranten: Während die italienischen Behörden Rackete der Beihilfe zur illegalen Migration beschuldigten, rügten unter anderem der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Außenminister Heiko Maas (beide SPD) das Verhalten Italiens.
Obwohl die Kritik in der Sache richtig ist, begünstigt eine Politik der Schuldzuweisung jedoch lediglich das populistische Gebaren Matteo Salvinis. Entsprechend kündigte der italienische Innenminister bereits eine weitere Verschärfung der Sanktionen für die zivile Seenotrettung an.
Migranten: Die neue EU-Kommission muss die Asylreform schnell abschließen
Die Sea-Watch 3 und ihre Kapitänin sind zum Symbol einer gescheiterten europäischen Asylpolitik geworden. Seit mehr als drei Jahren verhandeln die Staats- und Regierungschefs der EU bereits über eine Reform der Regeln zur Aufnahme und Verteilung von Asylsuchenden. Eine Einigung erscheint momentan undenkbar. Ein geregelter Mechanismus für die Aufnahme der im Mittelmeer geretteten Migranten bleibt damit in weiter Ferne.
Jetzt, nach der Wahl Ursula von der Leyens zur neuen EU-Kommissionspräsidentin, muss die Richtung klar sein: Die neue Kommission muss alles daransetzen, die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) baldmöglichst abzuschließen.
Angesichts der humanitären Notlage im Mittelmeer wäre es jedoch fatal, jetzt auf einen Durchbruch in den Verhandlungen zu warten. Auch wenn immer weniger Migranten die Überfahrt antreten, ist die Wahrscheinlichkeit auf der zentralen Mittelmeerroute zu sterben seit 2014 von zwei Prozent auf fast zehn Prozent gestiegen. Parallel zum langfristen Reformbestreben sollte deshalb ein Kern gewillter Mitgliedsstaaten vorangehen und die zukünftig im Mittelmeer Geretteten aufnehmen. Ein entsprechender Vorschlag für ein „Bündnis der Hilfsbereiten“ war schon von Bundesaußenminister Maas zu vernehmen.
Allianz für Flüchtlinge: Der Vorschlag birgt auch Risiken
Die Idee dahinter ist einfach: Wenn bereits im Vorfeld klar ist, wer die Migranten aufnimmt, können die Schiffe der zivilen Seenotrettung ohne tagelanges Warten anlegen und sich schneller wieder auf den Weg machen, um weitere Menschenleben zu retten.
Sicher, dieser Vorschlag birgt auch Risiken. Denn mit dem Einberufen eines solchen Bündnisses würde man vor der Blockadehaltung einiger Mitgliedsstaaten resignieren. Diese würden aus der Verantwortung entlassen, zur Aufnahme von Geflüchteten beizutragen. Knapp 20 Jahre, nachdem der Grundstein für das heutige europäische Asylsystem gelegt wurde, wäre die bewusste Unterteilung in gewillte und blockierende Staaten ein ernüchterndes Jubiläum für die angestrebte Solidargemeinschaft.
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Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass diese Trennlinie bereits existiert. Staaten wie Deutschland, Frankreich, Schweden, Portugal oder Belgien haben nicht nur regelmäßig Gerettete aus dem Mittelmeer unter sich verteilt. Im Rahmen des 2015 aufgesetzten Notfallprogramms für Italien und Griechenland haben sie auch den Großteil der Asylsuchenden aus den dortigen „Hotspots“ aufgenommen. Ihnen gegenüber steht neben den Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) vor allem Österreich. Als Reaktion auf den Vorschlag von Maas erwiderte Ex-Kanzler Sebastian Kurz schlicht, die Verteilung von Migranten sei gescheitert.
Positive Anreize, um Migranten aufzunehmen
Sich die Zweiteilung der Mitgliedsstaaten einzugestehen erscheint notwendig, um das von Maas geforderte Bündnis umzusetzen. In der Praxis hieße das, zunächst einen rechtlich bindenden Rahmen zu finden, der aus dem derzeitigen de-facto-Bündnis einiger gewillter EU-Länder eine de-jure-Koalition macht. Unter Berücksichtigung der Wirtschaftsleistung, der Bevölkerungsanzahl sowie den zuvor aufgenommenen Asylsuchenden würde jedem teilnehmenden Mitgliedsstaat ein festgelegter Anteil der zukünftig geretteten Migranten zugeteilt. Auch andere Faktoren, wie etwaige Leistungen bei der Registrierung und Erstunterbringung von Geflüchteten, könnten in den Verteilungsschlüssel mit einfließen, damit dieser für die Staaten an den EU-Außengrenzen attraktiver wird.
Zusätzlich sollten die „Bündnisstaaten“ mit Geldern aus den Asyl- und Regionalfonds der EU unterstützt werden. Um dies zu ermöglichen müsste die neue Kommission in den anstehenden Verhandlungen für den mehrjährigen europäischen Finanzrahmen ihren bisherigen Vorschlag entsprechend aufstocken. Dabei gilt es, positive Anreize für die Teilnahme an dem Bündnis zu schaffen. Für Kommunen und Städte sollte es möglich sein, Geflüchtete auch zusätzlich zu einem etwaigen Verteilungsschlüssel aufzunehmen. Erst kürzlich erklärten sich 60 deutsche Städte unter der Schirmherrschaft der Organisation Seebrücke zu „sicheren Häfen“ und forderten, die Geretteten an Bord der Sea-Watch 3 aufnehmen zu können.
Den Migranten hilft in der aktuellen Lage nur ein Bündnis der Willigen
Entgegen mancher Befürchtungen wäre die zusätzliche Belastung nationaler Behörden durch die Aufnahme der im Mittelmeer geretteten Asylsuchenden überschaubar. Noch 2018 kamen zwischen Januar und Juli in etwa 18.800 Menschen über das Mittelmeer in die EU. Auch dank fragwürdiger Vereinbarungen mit der libyschen Küstenwache waren es 2019 im selben Zeitraum nur noch knapp 4000. Dennoch kamen schon in diesem Jahr mindestens 682 Menschen im Mittelmeer ums Leben.
Die wochenlange Hängepartie der Sea-Watch 3 hat einmal mehr verdeutlicht, dass nicht länger von Schiff zu Schiff entschieden werden kann, wie man mit den im Mittelmeer geretteten Migranten umgehen möchte. In Anbetracht der Blockadehaltung einiger Mitgliedsstaaten ist ein „Bündnis der Hilfsbereiten“ momentan die einzige Möglichkeit, die Handlungsfähigkeit der EU zu bewahren. Langfristig sollte es dennoch das Ziel bleiben, den im Kleinen praktizierten Verteilungsmechanismus für Geflüchtete in das gemeinsame Asylsystem der EU zu integrieren. Darauf sollten die Parlamentarier in Straßburg die neue Kommission verpflichten.
Damit das von der EU proklamierte Wertesystem nicht weiter an Glaubwürdigkeit verliert, darf das Bemühen um eine gesamteuropäische Lösung allerdings nicht zum Vorwand verkommen, dem Sterben im Mittelmeer weiter tatenlos zuzusehen.
Lucas Rasche