Krieg in Syrien und Irak: "Es geht ums nackte Überleben"
In Syrien sind Millionen auf der Flucht, im Irak suchen die Menschen Schutz vor Islamisten: Ein Gespräch mit dem UN-Experten Ralf Südhoff über dringend benötigte Hilfe, gekürzte Lebensmittelrationen und mangelndes Geld.
Herr Südhoff, drei Millionen Syrer sind vor dem Bürgerkrieg in die Nachbarstaaten geflohen. Im Land selbst haben sechs bis sieben Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Sie alle sind dringend auf Hilfe angewiesen. Wie geht eine Organisation wie das Welternährungsprogramm (WFP) mit einer derartigen Herausforderung um?
Die Summe der Krisen überfordert selbst das UN-Welternährungsprogramm als größte Hilfseinrichtung der Welt. Syrien allein ist die größte humanitäre Krise, mit der wir es je zu tun hatten. Die vielen Gefechte zwischen den Kriegsparteien machen es gleichzeitig besonders schwierig, die Menschen zu unterstützen – ohne die eigenen Mitarbeiter zu gefährden.
Erreicht man unter solchen Bedingungen überhaupt alle Notleidenden?
Das Welternährungsprogramm erreicht trotz aller Widrigkeiten Millionen Menschen. Zum Beispiel haben wir im August 3,5 Millionen Notleidende in Syrien selbst versorgen können. Wir unterstützen also in einem Kampfgebiet ebenso viele Menschen, wie in Berlin leben. Allerdings stimmt es auch, dass 250 000 Menschen, die etwa in belagerten Städten ausharren müssen, für uns derzeit unerreichbar sind. Aber die schwierige Sicherheitslage ist gar nicht mal das größte Problem.
Sondern?
Uns fehlen die finanziellen Mittel, den Syrern in ausreichendem Maße zu helfen. Das gilt auch für die Flüchtlinge, die in Nachbarländern Zuflucht gefunden haben. Vermutlich müssen wir schon im September deren Lebensmittelrationen massiv kürzen. Die Gesundheit von Millionen Kindern, Vätern und Müttern ist dann gefährdet.
Auch im Nordirak sind Hunderttausende auf der Flucht vor islamistischen Terrormilizen. Ist es in dieser Region ähnlich schwer wie in Syrien, die Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen?
Die meisten Vertriebenen konnten zum Glück die besonders umkämpften Gebiete verlassen. Das gibt uns die Möglichkeit, sie zu versorgen, zum Beispiel haben wir Suppenküchen für über 120 000 Iraker aufgestellt, auch dank deutscher Hilfe. Aber das reicht bei Weitem nicht aus. Die Menschen brauchen Unterkünfte, Wasser, Medizin. Und neben den 1,5 Millionen Vertriebenen gibt es vier Millionen Iraker, die sich nicht mehr selbst ernähren können, weil das öffentliche Versorgungssystem zusammengebrochen ist.
Alle Bedürftigen in Syrien und im Nordirak zu betreuen, wäre schon für sich genommen eine riesige Aufgabe. Nun sollen Sie zudem im Gazastreifen helfen. Wie dramatisch ist dort die Lage nach dem Krieg zwischen Hamas und Israel?
Der Gazastreifen bedeutet in der Tat eine zusätzliche Herausforderung. Aber die Verkündung einer Waffenruhe hat zumindest dazu geführt, dass viele Menschen ihre Notunterkünfte verlassen konnten. Noch vor wenigen Tagen hausten dort und in Gastfamilien mehr als 500 000 Einwohner, jetzt sind es in den Notunterkünften noch 50 000. Erfreulich ist auch, dass ein Lastwagenkonvoi erstmals seit Ausbruch des Krieges den Gazastreifen über die Grenze zu Ägypten erreichen konnte. Aber im Gazastreifen gilt das Gleiche wie für Syrien: Wir werden die Nahrungsmittelrationen bereits in wenigen Tagen kürzen müssen – aus Geldmangel.
Gaza, Syrien, Nordirak: Ein Großteil der Krisenregion scheint ins Chaos abzurutschen. Welche Möglichkeiten haben Sie als UN-Organisation, der Situation auch nur annähernd Herr zu werden?
Bis zu 90 Prozent unserer Mitarbeiter waren schon dort, bevor die Krisen akut wurden. Wir können uns also auf deren Expertise stützen und so Millionen Bedürftige erreichen. Der verbreitete Eindruck, man könne nichts tun, ist falsch und gefährlich, da viele Menschen deshalb nicht spenden. Richtig ist aber: Wir haben es mit einem Ausnahmejahr zu tun. Hinzu kommen die drohende Hungersnot im Südsudan, die Kämpfe in der Zentralafrikanischen Republik und die Ebola-Epidemie. WFP muss derzeit fünf Krisen zugleich meistern – das gab es noch nie. Leider entspricht der Umfang der Hilfe bei Weitem nicht den Erfordernissen. Es ist daher sehr wichtig, dass die Geberländer zusätzliche Budgets bereitstellen. Aus den normalen Töpfen für humanitäre Hilfe lässt sich das finanziell nicht stemmen.
Die Klage über mangelnde Unterstützung ist bei Hilfsorganisationen weit verbreitet. Versagt die Weltgemeinschaft angesichts der humanitären Katastrophen oder schaut sie einfach weg?
Viele Staaten haben noch nicht verstanden, dass ein Jahr mit außergewöhnlichen Krisen auch eine außergewöhnliche Reaktion erfordert. Dem muss man sofort Rechnung tragen, es geht für Millionen Menschen ums nackte Überleben.