Seenotrettung: Christliche Seefahrt
Die evangelische Kirche steigt in die zivile Seenotrettung ein. Sie hat Spenden gesammelt, um ein Schiff für das Mittelmeer zu kaufen. Ein riskantes Unterfangen. Und ein Problem für alle, die Flüchtlingshilfe kriminalisieren.
Als der Evangelische Kirchentag im vergangenen Jahr die Resolution „Schickt ein Schiff“ verabschiedete, da war das nicht bloß eine Aufforderung an den Kirchenrat, sich stärker für die Ertrinkenden im Mittelmeer einzusetzen. Es ging wirklich um ein Schiff.
Seit Ende Januar ist die Evangelische Kirche Eigentümer der „Poseidon“. Zwei Wochen zuvor, zwei Wochen vor Ablauf der Bieterfrist, reisen zwei Herren der Kirche nach Kiel. Es ist ein freundlich-kühler Donnerstag. Die beiden Gottesdiener wollen das Schiff in Augenschein nehmen, für das sie immerhin eine siebenstellige Summe an Spendengeldern aufzuwenden bereit sind. Die „Poseidon“, 60 Meter lang, 1975 gebaut, liegt vertäut vor dem Geomar-Institut für Ozeanforschung. An Bord schauen sich weitere Interessenten um, das Telefon am Ohr und die aufgeregte türkische Stimme eines Auftraggebers. Jemand blättert auf der Brücke in den technischen Details der Schiffspapiere.
Obwohl sich die Kirche als Institution von jeher mit einem Schiff identifiziert – Petrus war ein Fischer! –, war die Initiative ein ungewöhnlich direktes Signal an die 22 Millionen EKD-Mitglieder, dass man sich als Christ nicht heraushalten dürfe, wenn Menschen in Lebensgefahr geraten. Unter der Losung „Wir schicken ein Schiff“ wurde ein Spendenkonto eingerichtet und das Bündnis „United4Rescue“ mit anderen gesellschaftlichen Verbänden initiiert.
Exemplarisches Handeln
Auch Michael Schwickart ist in Kiel eingetroffen, der Dritte im Bunde, ohne den es das Bemühen um dieses Kirchenschiff nicht gäbe. Sie lassen es sich zeigen, inspizieren Mannschaftsquartiere und Messen, Küche, Vorratsräume und frühere Labore, in denen überall Kabelstränge aus der Verkleidung ragen, das Hospital so wie Kräne und Seilwinden. Die „Poseidon“ böte genügend Komfort für zwei Dutzend Besatzungsmitglieder, um wochenlang auf See auszuhalten. Das breite, flache Trawler-Heck würde die Unterbringung vieler Flüchtlinge begünstigen. Hier wären sie geschützt vor Seegang und Wind. Auch die Übernahme entkräfteter Schiffbrüchiger wäre wegen des niedrigen Rumpfs problemlos möglich. Für Rettungseinsätze würde sich die „Poseidon“ aber vor allem gut eignen, sagt Schwickart, „weil sie gerade verfügbar ist“.
Nach der Besichtigung geht es in ein nahegelegenes Café am Seefischmarkt. Dort sitzt das Trio nebeneinander auf einer Bank, belegte Brötchen vor sich, um Fragen zu beantworten. Schwickart und die beiden Männer von der Kirche könnten unterschiedlicher nicht sein.
Da ist Thies Gundlach, 63 Jahre alt, gebürtiger Lübecker, ein kraftvoller Theologe mit kahlem Charakterkopf und jovialem Auftreten, der den Posten eines Vizepräsidenten der zentralen Verwaltungsbehörde der Evangelischen Kirche Deutschlands bekleidet und nun den Vorsitz des Bündnisvereins zur Beschaffung des Schiffs innehat. Die Kirche wolle keine Reederei werden, sagt er. Sie werde bloß ein Schiff beschaffen und es einer NGO zur Verfügung stellen.
Gundlach macht keinen Hehl aus der „Herausforderung“, die die unterschiedlichen Kulturen von Kirche und Aktivistenszene heraufbeschwören. Aber er sagt auch, dass Kirche und NGOs „zu den Guten gehören“. Zusammenzuarbeiten könne deshalb nicht falsch sein.
Er wird begleitet von Ansgar Gilster, dem EKD-Verantwortlichen für Migrations- und Flüchtlingsfragen. Der junge, blonde Lockenkopf ist einer der Architekten des Projekts. Für ihn stellt es ein „exemplarisches Handeln“ dar, das sowohl ein Zeichen setze, als auch mehr erreiche als Symbolpolitik. „Die Menschen würden ja wirklich vor dem Ertrinken gerettet“, sagt er.
"Ein Schiff von uns, von euch, von allen"
Schließlich ist mit Michael Schwickart, 59 Jahre alt, ein Praktiker der Seenotrettung dabei. Seine Markenzeichen: tief liegende Augen in einem entschlossenen Gesicht und markante Sprüche, die er mit dem aufsässigen Tonfall des Hamburgers fallen lässt. Beim Seenotrettungsverein Sea-Watch war der Betriebswirt lange für geschäftliche Belange zuständig. Wenn er jetzt „wir“ sagt, weiß nicht mal er genau, wen er meint. Er sei eine gespaltene Person, meint Schwickart, zerrissen zwischen seiner Funktion als Spendensammler bei Sea-Watch und seiner neuen Aufgabe als zweiter Mann hinter Gundlach bei United4Rescue. Den Eindruck will er nicht aufkommen lassen, seiner Organisation mit den Mitteln der Kirche ein neues Schiff verschafft zu haben.
Schwickart nahm 2016 und 2017 selbst an Rettungseinsätzen teil, nachdem ihn ein Freund dazu animiert hatte. „Da war das Leben an Bord noch einfach“, sagt er und meint die Zeit, als Sea-Watch mit einem Kutter wenig mehr war als ein vorgeschobener Beobachtungsposten, nicht ausgelegt dafür, Menschen massenhaft von ihren instabilen Schlauchbooten zu bergen. Sea- Watch begnügte sich damit, die Seenotfälle zu melden, die Rettung übernahmen andere.
Im Mai 2016 konnten die Retter nur noch 45 Leichen von einem sinkenden Holzboot bergen, darunter ein ertrunkenes Baby. Das Foto des toten Kindes, das ein Sea-Watch-Mitglied im Arm hielt, erschütterte die Welt. Und Sea Watch begann, sein Vorgehen zu ändern. Nun brachten die Aktivisten sofort nach der Sichtung eines gefährlich überladenen Flüchtlingsboots die Schwächsten in Sicherheit. Immer mehr Menschen fanden mit der Zeit auf der „Sea Watch 2“ Platz. Es war klar, dass Seenotrettung nur noch so funktionierte – ein größeres Schutzschiff musste her.
Mit dem Feldzug von Innenminister Matteo Salvini gegen die Seenotretter, denen er mit seiner Amtsübernahme im Juni 2018 die Einfahrt in italienische Häfen untersagte, änderte sich die Praxis in der Gefahrenzone vor Libyen abermals. Auf eine Rettung folgten nun wochenlange Irrfahrten der NGO-Schiffe.
Hinzu kam, dass die im Februar 2017 von den EU-Staaten beschlossene Malta- Erklärung zum Aufbau einer libyschen Küstenwache sich immer stärker auswirkte. Einer dubiosen Kommandozentrale, die sich auf einem italienischen Kriegsschiff in Tripolis befunden haben soll, wurde die Autorität einer Seenotleitstelle gegeben. Die freiwilligen Retter waren nun mit zuweilen schießwütigen Schnellbootbesatzungen konfrontiert, die ihre vordringliche Aufgabe darin sahen, die Flüchtlinge zur Küste zurückzubringen.
Zuletzt harrte die „Sea Watch“ 19 Tage vor Malta und Lampedusa aus, aber Salvini gab nicht nach. „Den Ausgang kennen Sie“, sagt Schwickart in Kiel, „man hat uns nicht reingelassen, wir sind reingefahren.“ Die Kapitänin Carola Rackete wurde verhaftet, zu Unrecht, wie ein italienisches Gericht später feststellen sollte. Sie sei „gezwungen“ gewesen, in Lampedusa einzulaufen, weil die Situation an Bord „nicht mehr zu verantworten“ war. Sea Watch hat bislang jeden gegen die NGO angestrengten Prozess gewonnen.
Im Sommer 2019 war die „Ocean Viking“ das einzige verbliebene zivile Rettungsfahrzeug. Sämtliche andere, „Sea Watch 3“, „Alan Kurdi“, „Lifeline“ und „Open Arms“, wurden von Behörden in europäischen Häfen festgehalten. Die zivile Seenotrettung war praktisch zum Erliegen gekommen. Denn auch die Besatzung der „Ocean Viking“ – Nachfolgerin der zuvor ausgemusterten „Aquarius“ – erlebte nach jeder Rettungsaktion und beladen mit erschöpften Menschen, dass sie von den Rettungsleitstellen Maltas und Italiens hingehalten wurde. In dieser Situation waren sich ein paar Leute hinter den Kulissen einig: Ein zusätzliches Schiff schien dringend erforderlich. Doch woher sollten die Mittel kommen?
Fragt man Ansgar Gilster, wer den Ausgangspunkt der Kirchentagsinitiative gebildet habe, sagt er: „Na, ich.“
Leute aus seinem Netzwerk waren sich einig: Die EKD könnte mit ihrer gesellschaftlichen Verankerung zum Trichter einer Botschaft werden, die bis dahin nur durch Aktivisten von Sea Watch, Sea Eye, SOS Mediterranée, Ärzte ohne Grenzen, Mission Lifeline und Proactiva Open Arms vorangetrieben wurden. Bei einem Arbeitstreffen von 40 Organisationen bei der Diakonie, an dem Vertreter von UNHCR, Seebrücke und NGOs sowie von allen Wohlfahrtsverbänden teilnahmen, wurde ein Grundlagenpapier erstellt.
"Mit Moralismus hat das nichts zu tun"
Fahrt nahm die Sache auf dem Kirchentag auf. Gilster und Schwickart bildeten dabei den Nukleus der Initiative. Zu diesem Zeitpunkt blickten EKD und Sea Watch bereits auf eine längere Partnerschaft zurück. Kirchengelder flossen etwa für das Aufklärungsflugzeug Moonbird, mit dem Sea-Watch-Piloten in den Himmel des Mittelmeers aufstiegen, um die Flüchtlingsrouten abzusuchen.
Aber eine Million Euro für ein Schiff aufzubringen, war etwas anderes.
Dem Votum des Kirchentages schloss sich der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm „von Herzen“ an, machte es schnell zu seiner eigenen Mission. Wie sehr der 59-jährige Landesbischof von Bayern hinter dem Anliegen steht, macht er Anfang Dezember in der Hamburger Flussschifferkirche deutlich, die als umgebauter Frachtkahn unweit der Landungsbrücken in einem Seitenkanal der Elbe liegt. Zwischen Barkassen und Schuten stellt die EKD ihre Spendenaktion der Öffentlichkeit vor. Als Ehrengast ist Leoluca Orlando aus Palermo angereist, wo der ehemalige Mafia-Jäger und Staatsanwalt heute ein beliebter Bürgermeister ist. Bedford-Strohm traf ihn dort Anfang Juni, nachdem er die „Sea Watch 3“ besucht hatte. Nun sagt er, es gehe „um ein Schiff von uns, von euch, von allen“.
Bedford-Strohm weiß seine langen Sätze mit lebhafter Vehemenz vorzutragen. Er berichtet von den kontroversen Diskussionen auf der EKD-Synode in Dresden. Nach dem dort gefassten „einmütigen Beschluss ist er über den Austausch von Argumenten hinaus. Sie alle liefen ja doch nur darauf hinaus, sagt er, dass man nicht nur reden dürfe, „sondern handeln muss“. Und weiter sagt er: „Mit Moralismus hat das alles nichts zu tun, sondern mit Menschlichkeit. Und wenn wir als Kirche für diese Menschlichkeit nicht stehen, wer denn dann?“
An der Seite des EKD-Oberhaupts saß in Hamburg auch Michael Schwickart, ein Laptop vor sich aufgeklappt, über das er eine Live-Schalte zur „Alan Kurdi“ herstellte. Die Besatzung des von Sea-Eye betriebenen Kutters hatte sechs Tage zuvor 84 Menschen von einem Schlauchboot gerettet, einige davon auf Lampedusa absetzen dürfen und wartete nun auf weitere Anweisungen. Die Schiffsführung vermittelte mit ihrem Alarmismus das oft gesehene Bild von Helfern, die selbst Hilfe erflehten. Einen Tag später sollte man sie nach Sizilien beordern.
Offiziell war da noch nicht beschlossen, welche Rettungsorganisation das zusätzliche Schiff bekommen sollte. Es hieß, die am besten geeignete. Selbst beim Besuch auf der „Poseidon“ heißt es, man habe keinen „Sea-Watch-Unterstützungsverein“ gegründet. Doch schließt das Anforderungsprofil die meisten NGOs aus. Sie sind entweder zu klein oder setzen wie SOS Mediterranée lieber auf Charterverträge für bis zu 14.000 Euro pro Tag, die etwa die „Ocean Viking“ auf See kostet.
In Kiel rechnet Schwickart vor, was ein Rettungsschiff von der Größe der „Poseidon“ an Unterhalt kosten würde, mindestens 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Diese Summe will das Bündnis nicht selbst tragen, deshalb soll das Schiff an die Organisation gehen, die es wirtschaftlich betreiben könne, wie Schwickart sagt. „Es geht nicht darum, ein vorhandenes Schiff auszutauschen, sondern ein zusätzliches auf den Weg zu bringen.“
Nur Sea Watch scheint dazu in der Lage zu sein. Jedenfalls griff die älteste der zivilen Seenotrettungsinitiativen der kleineren Sea Eye schon mal mit etwa 60.000 Euro unter die Arme, ohne die die „Alan Kurdi“ nicht hätte in Aktion treten können. Und da die „Poseidon“ unter deutscher Flagge als Frachtschiff registriert werden soll, müssten entsprechend höhere gesetzliche Anforderungen an Mannschaftsstärke und technischen Zustand erfüllt werden. „Das muss man erstmal umsetzen können“, sagt Michael Schwickart.
Schon im Juli vergangenen Jahres hatten Experten von Sea Watch Gelegenheit, die „Poseidon“ im Trockendock zu inspizieren. Das Schiff durchlief die übliche Prozedur zur Erneuerung der fünf Jahre gültigen Betriebserlaubnis. Allein das kostet den Besitzer ein hübsches Sümmchen. Man könne sich deshalb ganz auf die Aufgabe der Menschenrettung konzentrieren, sagt Schwickart, statt erstmal einen Werftaufenthalt planen zu müssen. Er hofft, das Schiff bis zum Frühjahr so weit umgerüstet zu haben, dass es ins Mittelmeer aufbrechen kann.
Eigentlich sieht sich das EKD-Bündnis gefordert, „bis das Schiff fährt“. Aber Thies Gundlach ist sicher, dass es auch danach „auf politischer Ebene“ nützlich sei. Es soll offenbar nicht wieder soweit kommen, dass die Aktivisten von Politikern der EU kriminalisiert und quasi zu humanitären Freibeutern erklärt werden. Das Bündnis würde sich mit seinen Partnern – von Ärzte ohne Grenzen über DGB und katholische Jugend bis zu Pro Asyl – schützend vor sie stellen.
Alles andere wäre eine schlechte Investition.