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Ein Unterstützer des Brexit demonstriert vor dem Parlamentsgebäude in London.
© Tolga Akmen/AFP

391 Gegenstimmen: Erneut ein Brexit-Debakel für Theresa May

Im letzten Moment hatte sie mit der EU noch Nachbesserungen ausgehandelt – es nützte nichts: 391 Abgeordnete stimmten gegen den Brexit-Deal.

Das britische Unterhaus hat den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Brexit-Vertrag trotz der mit der EU ausgehandelten Nachbesserungen erneut abgelehnt. 391 Abgeordnete stimmten am Dienstagabend gegen das Abkommen, 242 votierten dafür. Das Votum erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Austritts „deutlich“, erklärte ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk nach der Entscheidung.

Im Plenarsaal des Unterhauses hatte Theresa May vor halbleeren Bänken einen zweiten Anlauf unternommen, die Zustimmung für ihr EU-Austrittspaket einzuholen. Die Abgeordneten seien konfrontiert mit einer klaren Alternative, krächzte die britische Premierministerin mit heiserer Stimme: „Entweder wir verabschieden diesen guten Deal, oder der Brexit könnte uns verlorengehen.“ Dieses Risiko schienen die Hardliner in ihren eigenen Reihen nicht zu fürchten.

Mitte Januar hatten die Parlamentarier der konservativen Minderheitsregierung eine Niederlage von historischem Ausmaß zugefügt: Sie lehnten den seit Mitte November ausgehandelt vorliegenden Austrittsvertrag sowie die politische Zukunftserklärung mit einer Mehrheit von 230 Stimmen ab. Am Dienstag erklärten mehrere damalige Tory-Rebellen, sie hätten ihre Meinung geändert und würden nun die Regierungschefin unterstützen. Die Niederlage fiel deutlich geringer aus, stellt für May und ihr Team aber dennoch einen schweren Rückschlag dar.

May will nun an diesem Mittwoch darüber abstimmen lassen, ob Großbritannien ohne Abkommen aus der EU ausscheiden soll. Die Abgeordneten des Regierungslagers sollen ihr zufolge dabei keinem Fraktionszwang unterliegen. Sollte auch der No-Deal-Brexit wie erwartet abgelehnt werden, soll es am Donnerstag eine dritte Abstimmung über eine mögliche Verschiebung des Austritts geben.

„Wenn das Unterhaus dafür stimmt, ohne ein Abkommen am 29. März auszutreten, wird es die Linie der Regierung sein, diese Entscheidung umzusetzen“, sagte May. Sie selbst glaube aber, der beste Weg aus der EU auszutreten, sei auf geordnete Weise. Lehnt das Parlament einen „No Deal“ ab, soll das May zufolge rechtlich aber nicht bindend sein. Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei bezeichnete das Abkommen als „eindeutig tot“. Er wolle nun erneut seine Pläne für einen Brexit mit engerer Anbindung an Brüssel zur Abstimmung stellen – und rief zu Neuwahlen in Großbritannien auf.

„Lösung für Blockade kann nur in London gefunden werden“

Die EU-Seite bedauerte das Nein zum Brexit-Vertrag. Man sei „enttäuscht, dass die britische Regierung es nicht geschafft hat, eine Mehrheit für das Austrittsabkommen zu erreichen, auf das sich beide Seiten im November geeinigt haben“, erklärten Sprecher von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk am Dienstagabend. Die EU habe alles Erdenkliche für eine Einigung getan. „Wenn es eine Lösung für die derzeitige Blockade gibt, dann kann sie nur in London gefunden werden.“

Die übrigen 27 EU-Staaten würden einen „begründeten Antrag“ Großbritanniens auf Verlängerung der Austrittsfrist über den 29. März hinaus in Erwägung ziehen. Aber: „Die EU27 wird eine glaubwürdige Begründung für eine mögliche Verlängerung und ihre Dauer erwarten.“

Brexit-Hardliner machen sich juristische Bewertung zunutze

Zum Abschluss ihrer achtwöchigen Versuche, die EU zu weiteren Zugeständnissen zu bewegen, war May am Montag nach Straßburg gereist. Nach ihrem zweistündigen Gespräch mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gaben beide einen Zusatz zum vereinbarten Austrittspaket und zur politischen Zukunftserklärung bekannt. Darin ging es erneut um die Auffanglösung für Irland (Backstop), die EU-Gegner in der konservativen Partei sowie bei der nordirischen Unionistenpartei DUP zu einem Problem erklärt haben. Der Backstop soll die Offenhaltung der inneririschen Grenze ermöglichen und damit den Friedensprozess in Nordirland sichern. Dieser war im Karfreitagsabkommen 1998 besiegelt worden; als einzige Partei Nordirlands hatte damals die DUP ihre Zustimmung verweigert. Wie fragil die Situation in der einstigen Bürgerkriegsprovinz bis heute ist, zeigten vergangene Woche mehrere Briefbomben an Flughäfen und Bahnhöfen in London sowie an der Uni Glasgow. Am Dienstag bekannte sich dazu eine angebliche Nachfolgegruppe der irisch-republikanischen Terrortruppe IRA.

Falls sich beide Seiten bis zum Ende der Übergangsperiode (wohl Dezember 2020) nicht auf die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit geeinigt haben, würde dem Backstop zufolge Großbritannien in der Zollunion mit der EU verharren. Dass dies kein Dauerzustand sein würde, haben zwar beide Seiten immer wieder beteuert; dennoch beharrten die DUP sowie konservative Brexit-Hardliner auf einer zeitlichen Einschränkung der Auffanglösung. Diese ist auch in der neuen Vereinbarung nicht enthalten, wohl aber Regelungen für die Anrufung eines neutralen Schiedsgerichts für den Fall, dass beide Seiten zu keiner Einigung kommen.

Der britische Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox sprach in seiner rechtlichen Beurteilung am Dienstag zwar von einem „reduzierten Risiko“, dass Großbritannien auf Dauer im Backstop verharren müsse. Zwar wurde der erfahrene Jurist in sehr viel nüchternerer Atmosphäre angehört als im Januar. Seine vorsichtige Bewertung der juristischen Lage nutzten die Brexit-Hardliner aber dazu, ihre erneute Ablehnung des Vertragspakets anzukündigen. Da auch die Labour-Opposition und die schottischen und walisischen Nationalisten sowie Liberaldemokraten und Grüne dem Deal nicht zustimmten, muss das Unterhaus in den kommenden Tagen neue Entscheidungen über die Zukunft des Landes treffen.

Zwei weitere Tage der Entscheidung stehen bevor

Im parlamentarischen Fahrplan ist für Mittwoch eine Debatte und Abstimmung über den sogenannten No Deal vorgesehen, also das chaotische Ausscheiden ohne Vereinbarung. Entscheidet sich das Unterhaus mehrheitlich dagegen, steht am Donnerstag das Votum über eine Verlängerung der Verhandlungsphase an. Premier May sprach Ende Februar von einer Periode bis Ende Juni; einflussreiche Hinterbänkler wollen bis Ende des Jahres verlängern, in Brüssel war zeitweilig sogar von zwei Jahren bis März 2021 die Rede.

Vorkehrungen eigener Art treffen seit Monaten Banken und Versicherungen in der City of London. Dem Thinktank New Financial zufolge haben mehr als 275 Firmen Vermögenswerte im Gesamtwert von 930 Milliarden Pfund (1,08 Billionen Euro) aus London in EU-Finanzplätze wie Dublin, Luxemburg, Paris oder Frankfurt verlagert. In Wirklichkeit dürfte die Zahl noch höher liegen, glaubt William Wright von New Financial: „Wir haben ausschließlich öffentliche Bekanntmachungen berücksichtigt. Unter dem Radar passiert sicher mehr.“

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