Opposition regiert Istanbul: Erdogans Ruf der Unbesiegbarkeit ist dahin
Zum ersten Mal seit 1994 hat Erdogan eine wichtige Wahl verloren. Das zeigt: Die politische Landschaft in der Türkei hat sich verändert. Ein Kommentar.
Der Ausgang der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul ist mehr als nur eine politische Ohrfeige für den türkischen Präsidenten Erdogan. Der am Mittwoch offiziell bestätigte Sieg des Oppositionspolitiker Imamoglu läutet eine Zeitenwende ein. Zudem wirft Imamoglus Erfolg die Frage auf, ob in der Türkei die demokratischen Spielregeln noch gelten.
Der Verlust von Istanbul ist schmerzlich für den erfolgsverwöhnten türkischen Staatschef. Am Bosporus begann vor 25 Jahre seine Karriere – und jetzt muss Erdogan mit ansehen, wie seine politische Gegner die Kontrolle über eine Stadt übernehmen, deren politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung für die Türkei nicht zu unterschätzen ist. Wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei, lautet ein Leitspruch der türkischen Politik.
Erdogans Ruf der Unbesiegbarkeit ist dahin: Zum ersten Mal seit seiner Wahl zum Istanbuler Bürgermeister im Jahr 1994 hat er eine wichtige Wahl verloren – und das ausgerechnet am Ort seines damaligen Erfolges. Manche sehen den politischen Aufsteiger Imamoglu schon als künftigen Präsidentschaftskandidaten. Kein Zweifel: Die politische Landschaft der Türkei hat sich verändert.
Aus der Bedeutung Istanbuls ergibt sich noch eine weitere Weichenstellung. Die Türkei wird sich selbst und der Welt demonstrieren, ob sie eine der wichtigsten Übungen einer Demokratie – den geordneten Machtwechsel nach dem Votum der Wähler – beherrscht, auch wenn es um eine Metropole von 15 Millionen Menschen geht. Beugt sich Erdogan dem Wählerwillen, wäre das gut für die Türkei insgesamt. Versucht er aber, Imamoglu durch Druck auf die zentrale Wahlkommission doch noch zu stürzen, würde er der Türkei einen schlechten Dienst erweisen.
Auch für das außenpolitische Gewicht des Landes ist die Frage nach der Hinnahme des Wahlausgangs sehr wichtig. In vielen Staaten in der Nachbarschaft der Türkei sind demokratische Machtwechsel selten, wenn nicht unmöglich. Die Türkei hat deshalb jetzt die Chance, sich als westlich verfasste Demokratie mit muslimischer Bevölkerung neuen Respekt zu erarbeiten. Auch in Europa, wo die Erwartungen an die Türkei in dieser Hinsicht inzwischen sehr niedrig sind, würde dies dem ramponierten Image des Landes gut tun.