Position: Die Türkei sollte am Friedensprozess festhalten: "Erdogans Reaktion ist unangemessen"
Die Türkei ist dabei, durch überzogene Reaktionen den Frieden im Land aufs Spiel zu setzen. Die Spannungen, die dort entstehen, reichen auch bis zu uns nach Deutschland. Alle Kräfte in der Türkei, egal welcher Partei oder Grupperung sie angehören – müssen nun dringend zur Deeskalation beitragen. Eine Position von Michelle Müntefering und Kati Piri
Die türkische Regierung hat ihren Kampf gegen den Terrorismus in den vergangenen Tagen verschärft. Während sie anfangs zögerte, sich mit vollem Engagement der internationalen Koalition gegen den „Islamischen Staat“ (IS) anzuschließen, blieb der Regierung nach den Angriffen auf türkisches Territorium keine andere Wahl. Ankara erlaubte den USA die Nutzung des Luftwaffenstützpunktes Incirlik für Angriffe auf Aufständische in Syrien. Ein guter Schritt, den wir begrüßen. Allerdings entschied die Türkei zur Überraschung vieler, als Vergeltung für eine Serie von Attacken auf Polizisten und Soldaten zugleich die Kurdische Arbeiter Partei (PKK ) im Nord-Irak anzugreifen. Wir anerkennen das Recht der Türkei sich zu verteidigen, aber diese türkische Reaktion ist unangemessen und droht die Friedensgespräche über die Kurden-Frage zu gefährden.
Erdogans Reaktion könnte eine Spriale der Gewalt befeuern
Die Aussage von Präsident Erdogan, eine Fortsetzung des Friedensprozesses sei derzeit unmöglich, und die Drohungen gegen kurdische Parlamentsmitglieder sind nicht nur verstörend, sondern auch kontraproduktiv. Sie könnten nach zwei Jahren Waffenruhe eine Spirale der Gewalt befeuern, die nur die Extremisten auf beiden Seiten stärken und die Mehrheit der moderaten Kräfte schwächen würde. Die Friedensgespräche sind eine Sache aller Parteien, sie liegen nicht nur in Händen des Präsidenten.
Die AKP hat wegen des Erfolgs der kurdischen HDP eine herbe Wahlniederlage einstecken müssen – der HDP gelang im Juni zum erstenmal in ihrer Geschichte der Einzug ins Parlament, mit 80 Sitzen. Die gleiche Partei ist nun das Ziel einer gefährlichen Rhetorik, die sie in direkte Verbindung zum Terrorismus bringt und, unterstützt von nationalistischen, rechten Politikern, die Auflösung der gesamten Partei fordert. Diese Kriminalisierung einer Oppositionspartei, die sechs Millionen Wähler repräsentiert, verurteilen wir aufs Schärfste.
Ungeachtet wachsender Sorgen über die Entwicklung der Demokratie in der Türkei in den letzten Jahren, unterstützen wir nachdrücklich die mutige politische Entscheidung der Regierung im Jahr 2012, einen Friedensprozess mit den Kurden aufs Gleis zu setzen. Die PKK-Rebellen hatten innerhalb von drei Jahrzehnten 40.000 Menschen umgebracht – der damalige Ministerpräsident Erdogan brauchte Mut, um sich der zu erwartenden Wut entgegenzustellen und den Kurden eine teilweise rechtliche Besserstellung gewähren.
Eine erfolgreiche Resolution zur Kurdenfrage ist von größter Wichtigkeit und wäre ein wirklich positiver Beitrag zu Demokratie, Frieden und dem Schutz der Menschenrechte in der Türkei. Die jüngsten Wahlen machten durchaus Hoffnung auf eine bessere Entwicklung in dieser Richtung. Die türkischen Wähler wählten ein Parlament, das repräsentativer ist als jedes vorangegangene. Das Ergebnis gab dem Friedensprozess eine neue Chance und ließ linken Parteien keine andere Wahl, als Kompromisse zu finden, um eine Regierungsmehrheit zusammen zu bekommen.
Gerade jetzt käme es darauf an, das Parlament zu stärken
Statt das Parlament an den Spielfeldrand zu drängen, wäre es jetzt wichtiger denn je, diese demokratische Arena zu nutzen, um den Kampf gegen den Terrorismus durch transparente Entscheidungen zu legitimieren; um die Spannungen zwischen Regierung und Kurden abzubauen, damit Fortschritte in der Kurden-Frage möglich bleiben; und um den Weg für eine Koalitionsregierung frei zu machen. Wir fordern die türkische Regierung nachdrücklich auf, auf den Pfad der Versöhnung mit dem kurdischen Teil der Landesbevölkerung zurückzukehren, um nicht den Verlust all dessen zu riskieren, was bisher erreicht wurde. Wir erwarten von den Gemäßigten auf beiden Seiten, dass alles unterlassen wird, was zu einer weiteren Polarisierung führen würde.
Europa und die Türkei – wir sind Verbündete im Kampf gegen eine der größten Bedrohungen der Gegenwart, den IS. Der Friedensprozess in der Türkei sollte weiter eine Chance bekommen und nicht durch unverhältnismäßige Reaktionen torpediert werden. Ihren Frieden und ihre Einheit kann die Türkei nur verteidigen, indem sie am Friedensprozess festhält.
Michelle Müntefering ist SPD-Bundestagsabgeordnete und Vizepräsidentin des Vereins Deutsch-Türkische Gesellschaft; Kati Piri ist eine niederländische Politikerin, Abgeordnete im Europäischen Parlament und Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten.
Michelle Müntefering, Kati Piri