Nach der Wahl in der Türkei: Das Ende der Ära Recep Tayyip Erdogan
Er wollte der starke Mann sein. Doch nach der Wahl in der Türkei ist klar: Recep Tayyip Erdogan hat das Volk falsch eingeschätzt. Dem Land stehen nun unruhige Zeiten bevor. Doch der Präsident ist verschwunden. In Istanbul und Berlin feiern die Kurden das Ende einer Ära.
Er fehlt. Als sich am späten Sonntagabend die Führung der türkischen Regierungspartei AKP auf dem Balkon des Partei-Hauptquartiers in Ankara versammelt, sich erklären muss vor ratlosen Anhängern, die vor dem Gebäude warten und doch nur ebenso ratlos zurückblicken können, ist einer nicht dabei: Präsident Recep Tayyip Erdogan. Gerade er, der in den Wochen des Wahlkampfs allgegenwärtig war, ist abgetaucht. Von ihm, der sonst keinen Tag vergehen lässt, ohne die politischen Gegner als Lügner, Schwule, Atheisten, Landesverräter und Terroristenhelfer zu bezeichnen, ist plötzlich kein Wort mehr zu hören.
Auf dem Balkon bemüht sich AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu noch, das Wahlergebnis zu einem großen Sieg umzudeuten. Schon in guten Zeiten ist er kein mitreißender Redner. Aber nun, da die AKP bei der Parlamentswahl nach mehr als zwölf Jahren überraschend die Regierungsmehrheit verloren hat, gelingt es schon gar nicht, die AKP-Aktivisten unten auf der Straße zu begeistern. Ein einziges Mal jubeln sie, als er den Namen des Mannes erwähnt, in den sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatten und der nun verstummt ist. Erdogan – hat er sie allein gelassen?
Mehr als 40 Prozent der Stimmen für eine Partei, die seit mehr als einem Jahrzehnt regiert, ist eigentlich ein stolzes Ergebnis. Zur Niederlage wurde das Resultat nur durch die völlig überzogenen Ziele, die Erdogan der AKP gesetzt hatte.
Erdogan scheiterte an den eigenen Ansprüchen
Eine Mehrheit von mindestens 330 Parlamentssitzen hatte Erdogan für die Regierungspartei gefordert, um damit Verfassungsänderungen durchsetzen zu können. Ein Präsidialsystem wollte er einführen. Die „Neue Türkei“ brauche einen starken Mann an der Spitze, sagte er im Wahlkampf immer wieder – obwohl die Verfassung dem Präsidenten parteipolitische Neutralität auferlegt. Der 61-Jährige kümmerte sich nicht darum, er glaubte sich dem großen Ziel schon sehr nahe. Dann kam der Wahltag. Die AKP wurde im Parlament auf 258 Abgeordnete zurückgestutzt. Es war das Ende seines Traums.
Wie der Präsident reagierte, als er das Ausmaß des Debakels begriff, berichtet ein gewöhnlich gut informierter Kenner Erdogans auf Twitter. Der Präsident sei wie in Schockstarre auf seinem Stuhl sitzen geblieben. Sogar die Gebetszeiten habe der fromme Muslim vergessen, berichtet unter Pseudonym ein gewisser „Fuat Avni“, der schon oft zuverlässig Polizeiaktionen gegen Regierungskritiker vorhergesagt hat und deshalb als glaubwürdig gilt. Noch in der Nacht habe die Regierung, der nicht selten Korruption vorgeworfen wird, mit der Vernichtung inkriminierender Dokumente begonnen, behauptet „Fuat Avni“.
Es sind unruhige Zeiten, die der Türkei nun bevor stehen. In Ankara beginnt die schwierige Suche nach einer einigermaßen stabilen Koalition, in Istanbul fallen die Kurse an der Börse, die Währung verliert an Wert. Doch Erdogan, der so gern der starke Mann sein will, ohne den im Land nichts geht, bleibt verschwunden.
Der Präsident soll aus seinem Palast vertrieben werden
Das Präsidialamt lässt in einer schriftlichen Mitteilung erklären, der „Ratschluss der Nation“ stehe über allem. Immerhin, sagen einige von Erdogans Gegnern, nehme der Präsident das Wahlergebnis an.
Fügt sich der Kämpfer Erdogan tatsächlich in sein Schicksal? Manche glauben nicht daran. Der Präsident müsse sich nun entscheiden, ob er sich an die Verfassung halten wolle oder nicht, sagt der Meinungsforscher Tarhan Erdem. Wenn er sich weiter so aufführe wie bisher, Andersdenkende ausgrenze, werde es unmöglich, zwischen den verschiedenen Parteien einen Kompromiss für eine Koalition zu finden.
Das wird ohnehin schwierig genug. Die rechtsradikale MHP, die als potenzieller Regierungspartner der AKP gehandelt wird, bereitet offenbar einen Gesetzentwurf vor, mit dem Erdogan gezwungen werden soll, aus seinem prunkvollen Palast in Ankara auszuziehen.
Die sozialdemokratische Kurdenpartei HDP, erstmals mit immerhin 82 Abgeordneten im Parlament vertreten, will ohnehin nichts mit Erdogan zu tun haben. Einige Beobachter spekulieren über eine Minderheitsregierung von MHP und der säkularen CHP, die von der HDP im Parlament geduldet würde. Auf diese Weise könnte die bisherige Opposition ihre Hauptziele erreichen: mutmaßlich korrupte AKP-Politiker vor Gericht stellen, die Zehnprozent-Hürde senken – und den Präsidenten aus seinem Palast vertreiben.
Auch ein ehemaliger Minister fordert die AKP zu Selbstkritik auf
So macht sich die Hoffnung auf eine neue Zeit breit, in der Regierungsgegner nicht mehr mit Strafanzeigen überzogen werden. Nun sackten die Aktien der Firma, die Wasserwerfer für die türkische Polizei herstellt, ab. Während die Werte regierungskritischer Medien an der Börse gegen den allgemeinen Trend nach oben klettern. Die Wähler wollten eine Erneuerung der Politik, sagt der Journalist Ali Bayramoglu, einer der wenigen unabhängig gebliebenen Köpfe bei der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“. Und selbst Hayati Yazici, ein früherer Minister aus Erdogans Regierung fordert die AKP zur Selbstkritik auf.
Dass Erdogan zu all dem schweigt, zeigt nur, wie sehr es ihn belastet, dass er höchstselbst für das schlechte Abschneiden seiner Partei verantwortlich gemacht wird. Ausgerechnet er, der strahlende Sieger aller Wahlen seit 2002, der sich viel auf seine Nähe zum einfachen Volk einbildet, hat die Türken falsch eingeschätzt.
„Der Wähler hat Erdogan dafür bestraft, dass er die Wahl zu einer Abstimmung über das Präsidialsystem umfunktioniert hat“, urteilt der Autor Sedat Yurttas. Diese Stimmung war dem selbsternannten Volkstribun entgangen.
Besonders im Kurdengebiet hat die AKP Stimmen verloren, und auch dazu hat Erdogan beigetragen. Mit dem Koran in der Hand beschimpfte er die Kurdenpartei HDP als einen Haufen Gottloser. Mitten im Wahlkampf behauptete er, es gebe überhaupt kein Kurdenproblem in der Türkei – obwohl er selbst den Geheimdienst seit Jahren mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan über eine Lösung des Kurdenkonflikts verhandeln lässt. Als die Dschihadisten des sogenannten Islamischen Staates im vergangenen Jahr die Kurdenstadt Kobani in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei angriffen, verweigerte Erdogan den Kurden die Hilfe. Das haben ihm die Wähler in Südostanatolien nicht verziehen. Und auch nicht jene in Deutschland. Erstmals seit der Wahlrechtsreform 2012 durften Türken auch hier ihre Stimme abgeben, ohne in die Türkei reisen zu müssen.
In Berlin feiern die Kurden
In Berlin-Kreuzberg feierten Kurden mit Autokorsos den Erfolg ihrer Partei, die zu Erdogans Enttäuschung entscheidend beigetragen hat. Zehntausende haben in Berlin vor Fernsehern und Computern gesessen: Bloß keine Hochrechnung verpassen. Mehr als 100 000 türkische Staatsbürger leben in Berlin – darunter eben auch Kurden. Mindestens noch mal 100 000 Berliner haben türkische und kurdische Wurzeln. Viele Kurden sind aber aus Syrien, Iran und Irak nach Deutschland gekommen.
Der Kurde Ozon Sahin hat gleich seinen Vater in Gaziantep angerufen: „So ein Wahlergebnis gab es noch nicht, darüber mussten wir reden.“ Sahin, hager, 44 Jahre, vierfacher Vater, ist immer noch gerührt. Am Sonntag standen ihm die Tränen in den Augen. Freudentränen, versteht sich. Zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern hat er im Berliner Norden vor dem Fernseher gesessen. Mit jeder Hochrechnung bebte er ein bisschen mehr: Endlich, bekommen die Kurden eine Stimme, die nicht mehr unerhört bleiben kann.
Die Stimmung ist aufgeheizt
Sahin betreibt einen Imbiss in Wedding. Als er vor 20 Jahren nach Deutschland kam, fing er als Abwäscher an, war Entrümpler, dann Dönerschneider. Nun hat er einen eigenen Laden. Das Geschäft läuft, Döner, Burger, Pizza für Bauarbeiter, Touristen, Studenten. Er verdiene „gutes Geld“, sagt Sahin, wovon er etwas für „die Sache“ spende. Politische Gespräche aber vermeide er in seinem Laden. Die Stimmung sei zugespitzt, er wolle keine Kunden verlieren.
„Die Sache“ – damit meint Sahin den Kampf der Kurden um Anerkennung, Respekt, Befreiung. Die kurdischen Sprachen – mit dem Persischen, nicht dem Türkischen verwandt – hatten türkische Regierungen seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches lange verboten. Leise erzählt Sahin, dass er mit der Kurdischen Arbeiterpartei, der PKK, sympathisiere. Die PKK ist nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland verboten. In den 80ern begann sie als separatistische Organisation einen blutigen Kampf gegen die Regierungen in Ankara. Weil die PKK sich für Anschläge ihrer Anhänger in Deutschland entschuldigt hatte und mit HDP-Chef Selahattin Demirtas nun jemand die Kurdenfrage friedlich nach Ankara trägt, ist zuletzt auch in der SPD über eine „Neubewertung des PKK-Verbotes“ nachgedacht worden.
Das Ende einer Ära
Nicht nur Kurden haben HDP gewählt. Evrim Sommer, mit ihren kurdischen Eltern einst aus der Türkei geflohen und heute Frauenexpertin für die Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, ist gut vernetzt in der Community. „Insbesondere Aleviten haben für die HDP gestimmt“, sagt Sommer. „Und bislang hatten die oft CHP gewählt.“ Die Aleviten sind eine religiöse Minderheit. Von vielen Sunniten – die als Mehrheit im Islam die Deutungshoheit beanspruchen - werden sie als Ungläubige ausgegrenzt. Die AKP versteht sich als sunnitisches Bollwerk. Viele Aleviten auch in Berlin aber glauben, die CHP würde letztlich vor Erdogan einknicken. Haben sie deshalb HDP-Chef Demirtas gewählt?
Mit den zwei Taxifahrern, die am Tag nach der Wahl am Hermannplatz auf Kunden warten, spricht man darüber am besten nicht. „Aleviten sind Ungläubige“, zischt einer aus der offenen Fahrertür. „Die beten nicht mal richtig.“ Beide Fahrer sind Türken, Sunniten, AKP-Wähler. Und sie sind an diesem Montag schlecht drauf. Aggressiv. „Das waren die Zionisten!“, ruft der zweite Taxifahrer. „Die wollen Erdogan schwach machen, um die Türkei aufzuteilen“, sagt er so laut, dass auch drei Jungs in Jogginghosen es hören können, die gerade ziellos durch den Kiez zu schlendern scheinen.
Inwiefern ausgerechnet „die Zionisten“ die Wahlen beeinflusst haben sollen, erklärt er nicht. Dafür mischen sich nun die drei Halbstarken – Kategorie Kleingangster – in das Gespräch ein: Sie hätten zwar nicht gewählt, aber ihre Eltern hätten gesagt, Erdogan führe sich wie „ein Sultan“ auf. Und sich wie ein Sultan aufzuführen, erklärt der kleinste der drei im Ton eines Paten, dürfe niemand.
Wem wird Erdogan die Schuld geben?
Anruf bei den Eltern des Nachwuchspaten: „Ja,“, sagt der Vater am anderen Ende. „Wir sind Aleviten.“ Und? HDP. Zum ersten Mal.
Auch Erdogans AKP hat Stimmen an die Kurdenpartei verloren – und nicht nur an die. Erdogan brachte das Kunststück fertig, neben den Kurden auch die Rechtsradikalen zu verärgern. Ihnen gingen die Kontakte der Regierung zur PKK und Erdogans Präsidialpläne viel zu weit. Deshalb konnte auch die MHP zulegen. Noch nie hat Erdogan sich so verschätzt.
Auch wenn selbst in Berlin Erdogans Ende gefeiert wird, so schnell gibt der Präsident nicht auf. Nun stellt sich die Frage, ob Erdogan den formalen AKP-Chef und Premier Davutoglu die Schuld zuschieben und durch einen neuen Gefolgsmann ersetzen wird. Unabhängig von den Wendungen der nächsten Wochen sieht es ganz danach aus: Die Ära Erdogan ist vorbei.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.
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