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Enttäuscht und empört. Abgeordnete der legalen Kurdenpartei HDP beschimpfen bei der Abstimmung die Kollegen der AKP.
© Umit Bektas/Reuters
Update

Türkei: Erdogans Plan geht auf - was folgt nun?

Das türkische Parlament hebt mit großer Mehrheit die Immunität von Kurdenpolitikern auf – das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem rückt immer näher. Eine Analyse.

Seit Monaten toben in der Türkei heftige Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und den kurdischen PKK-Rebellen. Doch das war noch nichts im Vergleich zu dem, was jetzt kommen könnte, sagt der Staatsrechtler und Kurdenpolitiker Mithat Sancar. Nicht nur Sancar erwartet, dass der Kurdenkonflikt noch einmal eskalieren wird, nachdem das Parlament am Freitag mit großer Mehrheit für die Aufhebung der Immunitäten von Abgeordneten gestimmt hat. Eine breite Front votierte dafür, die Kurden aus der Volksvertretung zu werfen.

„Wir werden wieder Dinge wie in den 90er Jahren sehen, vielleicht noch schlimmere“, vermutet Sancar: Damals hatte der Kurdenkonflikt mit außergerichtlichen Hinrichtungen, der Zerstörung mehrerer tausend kurdischer Dörfer und blutigen Anschlägen der PKK seinen bisherigen Höhepunkt erreicht.

Die Europäische Union rügte den Beschluss noch am Freitagabend. Er gebe Anlass zu „ernster Besorgnis“, sagten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der für Erweiterungsverhandlungen zuständige Kommissar Johannes Hahn in Brüssel. Immunität sollte allen Mandatsträgern gleichermaßen gewährt werden und ihre Aufhebung nach transparenten Kriterien im Einzelfall individuell begründet sein, erklärten die EU-Politiker. Politische Erwägungen dürften dabei keine Rolle spielen. Werde einzelnen Abgeordneten kriminelles Verhalten zur Last gelegt, hätten diese Anspruch auf faire Gerichtsverfahren. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte zuvor bereits gesagt, der Beschluss werfe einen „Schatten auf die Beziehungen“ zur Türkei.

Mit Genugtuung reagierte dagegen Recep Tayyip Erdogan auf die Abstimmung im Parlament, die auf Initiative seiner Regierungspartei AKP angesetzt worden war. Der Präsident sprach von einem historischen Tag. „Meine Nation will keine straffälligen Abgeordneten im Parlament sehen“, sagte er.

Auch Abgeordnete der Opposition haben dafür gestimmt

Erdogan meinte damit jene mehrere Dutzend Fraktionskollegen von Sancar in der HDP, die sich jetzt darauf einrichten müssen, vor Gericht gestellt zu werden. In den meisten Fällen wird ihnen die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, weil sie die Ziele der PKK propagiert haben sollen. „Stellt sie vor Gericht, lasst sie den Preis bezahlen“, sagte der Staatschef über die Kurdenpolitiker.

Erdogan hat nun bessere Chancen, das Präsidialsystem durchzusetzen.
Erdogan hat nun bessere Chancen, das Präsidialsystem durchzusetzen.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Im Parlament wurde die AKP beim Votum gegen die Kurden nicht nur von der Nationalistenpartei MHP unterstützt, die in der HDP ohnehin nur eine Marionette der PKK sieht. Auch mindestens 20 Abgeordnete der links-säkularistischen Oppositionspartei CHP müssen dem Ergebnis zufolge in geheimer Abstimmung für den AKP-Vorschlag votiert haben. Und das, obwohl die CHP ständig auf die AKP und Erdogan schimpft. Doch als es um die Kurden ging, schlossen sich einige Oppositionelle lieber dem Präsidenten an, als die Kollegen von der HDP zu schützen.

Diese Haltung löste wütende Kritik im Lager der Regierungsgegner aus. Die CHP habe der AKP die Hand gereicht und sich damit mitschuldig gemacht, hieß es. Schon vor mehr als zwanzig Jahren hatte sich im Parlament eine große Koalition türkischer Parteien zusammengetan, um kurdische Abgeordnete, darunter die spätere Trägerin des Menschenrechtspreises des EU-Parlaments, Leyla Zana, loszuwerden und vor Gericht stellen zu lassen.

Die Kurdenpartei will Verfassungsklage einreichen

Damals eskalierte der Kurdenkonflikt umso stärker, aber die heutigen Politiker hätten nichts aus der Geschichte gelernt, kritisierte der Kolumnist Hasan Cemal. „Wieder hat der Krieg gewonnen.“ Der Autor Hayko Bagdat riet der Anti-Kurden-Front im Parlament ironisch dazu, doch gleich wieder zu der Behauptung aus den 90ern zurückzukehren, wonach es überhaupt keine Kurden gebe. Von „Bergtürken“ war damals stattdessen die Rede.

In einem ersten Schritt will die HDP Verfassungsklage gegen den nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Parlamentsbeschluss einlegen, braucht dafür aber die Unterschrift von mindestens 100 Abgeordneten. Derzeit ist unklar, ob sich in den Reihen der CHP genügend Politiker finden, die bereit sind, die 59 HDP-Kollegen zu unterstützen.

Scheitert der Versuch, könnten schon bald 50 HDP-Abgeordnete vor Gericht erscheinen. Bei einer Verurteilung würden ihre Mandate vakant – was der AKP die Chance geben würde, über Nachwahlen den eigenen Sitzanteil im Parlament von derzeit 316 weiter zu erhöhen. „In der Türkei gibt es keine unabhängige Justiz“, sagte HDP-Chef Selahattin Demirtas. „Es gibt nichts, was Erdogan und die Justiz daran hindern könnte, uns ins Gefängnis zu werfen.“

Weg frei für das Präsidialsystem

Wenn die Erdogan-Partei mindestens 330 Sitze erreicht, kann sie im Alleingang eine Volksabstimmung über das von Erdogan gewünschte Präsidialsystem ansetzen. Der HDP-Politiker Idris Baluken warf der CHP deshalb vor, mit dem Votum vom Freitag die Präsidialpläne Erdogans unterstützt zu haben.

Tatsächlich stellt die Entscheidung des Parlaments einen weiteren politischen Triumph Erdogans über seine Gegner dar. Der Präsident kann nun auf eine breitere AKP-Mehrheit im Plenum hoffen – dass die in weiten Teilen regierungshörige Justiz gegen die ebenfalls von Strafermittlungen betroffenen 27 AKP-Abgeordneten vorgeht, erwartet niemand. Das „System Erdogan“ rückt immer näher. (mit dpa)

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