Nach dem Anschlag in Ankara: Die Türkei macht Front
Die Türkei hat den Kurden für das Attentat in Ankara Vergeltung angedroht und Stellungen im Nordirak bombardiert. Was bedeutet diese Eskalation für die Region?
Erstaunlich schnell haben die türkischen Behörden nach dem Anschlag auf den Militärkonvoi in Ankara, bei dem am Mittwochabend 28 Menschen starben, den mutmaßlichen Täter ermittelt: Der 1992 geborene Syrer Salih Neccar soll den Selbstmordanschlag an einer Ampel im Regierungsviertel der türkischen Hauptstadt im Auftrag der syrischen Kurdenmiliz YPG verübt haben. Die syrischen Kurden wiesen dies umgehend zurück und warfen der Türkei vor, eine geplante Invasion in Syrien rechtfertigen zu wollen.
Der Kurden- und der Syrienkonflikt vereinen sich in der Türkei zu einem unheilvollen Gemisch. Die Türkei gleiche zunehmend dem Irak und Syrien, schrieb der angesehene Journalist Hasan Cemal in einem Beitrag für das unabhängige Nachrichtenportal T24.
Wie verlaufen die Fronten in dem Konflikt?
Nach dem Anschlag von Ankara eskaliert der Kurdenkonflikt in der Türkei, im Irak und in Syrien gleichzeitig. Die Kurdenrebellen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) lobten den Autobombenanschlag in der türkischen Hauptstadt und kündigten weitere Gewaltaktionen an. Die PKK werde ab sofort „in den Bergen, in den Städten und überall aktiver werden“, sagte Cemil Bayik, einer der Anführer der Kurdenrebellen. Bayik sagte, die PKK wisse nicht, wer den Anschlag von Ankara begangen habe. Möglicherweise handele es sich um eine Vergeltung für das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die PKK in Südostanatolien.
Dort liefern sich türkische Sicherheitskräfte und PKK-Einheiten seit Monaten schwere Gefechte. Bei der Explosion einer offenbar von der PKK gelegten Bombe an einer Landstraße in Südostanatolien starben am Donnerstag sechs türkische Soldaten. Türkische Kampfflugzeuge bombardierten unterdessen PKK-Stellungen im Nordirak, wo die Rebellengruppe ihr Hauptquartier unterhält. Auch auf syrischem Gebiet eskalierten die Spannungen. Die Volksschutzeinheiten (YPG) und die Demokratische Unionspartei (PYD), Ableger der PKK in Syrien, wiesen die Verantwortung für den Anschlag von sich und warfen der Türkei vor, eine Intervention vorzubereiten.
Übereinstimmend berichteten kurdische Medien und syrische Beobachter, mehrere hundert offenbar pro-türkische Kämpfer hätten aus der Türkei kommend die Grenze nach Syrien überquert, um dort dem Vormarsch der syrischen Kurden entgegenzutreten. In einigen Berichten war von bis zu 2000 Kämpfern die Rede, die unter anderem mit Panzern in Syrien angekommen seien. Syrische Kurden meldeten zudem ein neues türkisches Bombardement bei Kobane und erklärten, türkische Militärfahrzeuge seien in einer kurdischen Enklave auf syrisches Gebiet vorgedrungen. Eine Bestätigung dafür gab es nicht.
Könnte der Kurdenkonflikt einen Einmarsch der Türkei nach Syrien auslösen?
PYD-Chef Salih Müslim sagte dem türkischen Nachrichtenportal T24, der von Ankara genannte mutmaßliche Täter sei seiner Partei unbekannt. Möglicherweise sei die Bombe von Ankara gezündet worden, um eine Intervention in Syrien zu rechtfertigen. Die syrische Regierung und ihr Verbündeter Russland werfen der Türkei schon seit Längerem vor, ein militärisches Eingreifen im Norden Syriens vorzubereiten.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte kurz vor dem Anschlag von Ankara erklärt, die Türkei werde ihren Artilleriebeschuss auf die YPG in Nord-Syrien ungeachtet des eigentlich geplanten Waffenstillstandes in Syrien fortsetzen. Nach wie vor strebt die Türkei die Einrichtung einer militärisch gesicherten Schutzzone in Syrien an, in der Flüchtlinge untergebracht werden könnten. Zugleich würde eine solche Zone eine Vereinigung der kurdischen Enklaven in Syrien verhindern. Allerdings betonte Erdogan auch, die Türkei sei nicht auf „Abenteuer“ aus; in Regierungskreisen hieß es, eine Bodenoffensive sei für die Türkei nur auf Grundlage eines Konsenses in der von den USA geführten internationalen Koalition möglich.
Gibt es Alternativen zur harten Linie?
Beobachter wie der in London lebende Türkei-Experte Ziya Meral plädieren für eine radikale Kehrtwende in der türkischen Syrien-Politik, deren Hauptziele in der Entmachtung Assads und in der Verhinderung einer starken kurdischen Autonomie jenseits der Grenze bestehen. Die Türkei müsse sich von ihren Positionen verabschieden, forderte Meral am Donnerstag auf Twitter. Andernfalls gehe das Land schweren Zeiten entgegen: „Es wird 20 Jahre Krieg und Chaos geben, bis wieder Normalität einkehrt.“
Auch die türkische Opposition fordert, die Regierung solle sich nicht länger wie eine Kriegspartei in Syrien gebärden. Ankara solle den Versuch einstellen, Assad zu stürzen. Einige Kritiker schlagen zudem eine Annäherung an die syrischen Kurden vor, um die Lage zu stabilisieren. Allerdings gibt es bei Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu keinerlei Anzeichen für einen Kurswechsel.
Was heißt der Anschlag von Ankara für das Verhältnis zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündeten?
Die türkische Regierung ist entschlossen, nach dem Anschlag von Ankara den Druck auf die Kurden zu erhöhen, auch indirekt. So sagte Davutoglu mit Blick auf die von ihm angeprangerte Täterschaft der YPG, er hoffe, dass nun auch die Partner der Türkei die engen Verbindungen zwischen der syrischen Kurdenmiliz und der PKK zur Kenntnis nähmen. Die Bemerkung zielte auf die USA, für die die Kurdenmiliz ein wichtiger Partner im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) im Norden Syriens ist.
Auch die Europäer könnten nach Einschätzung der türkischen Regierung mehr tun, um die PKK in die Defensive zu drängen. So wirft Ankara mehreren EU-Staaten immer wieder vor, Auslandsorganisationen der Kurdenrebellen in ihren Ländern gewähren zu lassen und ihnen die Möglichkeit zur Schutzgelderpressung und zur Anwerbung neuer Kämpfer zu eröffnen.
Wie wirkt sich die Lage auf den Kampf gegen den IS aus?
Möglicherweise werden die Dschihadisten als lachende Dritte aus der Konfrontation hervorgehen. Sollten die USA unter dem Druck der Türkei ihre Hilfe für die syrischen Kurden verringern oder ganz einstellen, könnte sich der IS im Norden Syriens nach einer Serie von Rückschlägen möglicherweise wieder stabilisieren. Derzeit sind zum Beispiel die Luftangriffe der USA gegen den IS so wirksam, weil YPG-Kämpfer am Boden die genauen Koordinaten von IS-Positionen an das US-Militär durchgeben.
Aus Sicht der Türkei wird allerdings genau andersherum ein Schuh draus: Nicht in einer größeren, sondern in einer verminderten Rolle für die YPG liege der richtige Weg. Ankara wirft der YPG und Russland vor, im Norden Syriens gegen gemäßigte Rebellengruppen zu kämpfen und damit dem IS Luft zu verschaffen.
Fest steht, dass sowohl die Dschihadisten als auch militante Kurden für die Türkei immer mehr zu einer Gefahr im eigenen Land werden. Mutmaßliche IS-Anhänger haben in den vergangenen Monaten bei Anschlägen in der Türkei fast 150 Menschen getötet, darunter elf deutsche Touristen.
Während der IS vornehmlich Zivilisten angreift, weil er auf eine möglichst große Verbreitung von Angst und Schrecken setzt, konzentriert sich die PKK bei ihren Gewaltaktionen häufig auf die türkischen Sicherheitskräfte. Zwar haben auch die Kurden in den vergangenen Jahren mitunter Zivilisten und Touristen angegriffen, doch verzichten sie inzwischen wegen des Imageverlusts im Ausland auf solche Aktionen.