Türkei: Die Zuspitzung des Kurdenkonflikts
Präsident Erdogan will die Vertreter der Kurdenpartei HDP aus dem Parlament drängen. Notfalls soll ein Referendum helfen. Dies verschärft die Polarisierung der Gesellschaft.
Die Türkei könnte schon bald die Vertreter der legalen Kurdenpartei HDP aus dem Parlament werfen – und damit auf eine neue Verschärfung des Kurdenkonflikts zutreiben. Nach der ersten Lesung des umstrittenen Plans von Präsident Recep Tayyip Erdogan zur Aufhebung der Immunität aller 550 Volksvertreter im türkischen Parlament zeichnet sich ein Referendum über die Frage noch in diesem Sommer ab.
Beobachter befürchten, dass dadurch die gesellschaftlichen Spannungen weiter zunehmen werden. „Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels“, sagte der prominente Kolumnist Okay Gönensin dem Tagesspiegel. Schon jetzt stünden sich viele Türken und Kurden wegen der heftigen Gefechte im Südosten des Landes mit mehreren tausend Toten allein seit dem vergangenen Sommer unversöhnlich gegenüber.
„Das Referendum wird die Polarisierung vertiefen“, meint Gönensin, der für das Blatt „Vatan“ schreibt. Präsident Erdogan, der hinter dem Plan der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zur Immunitätsaufhebung steht, will dennoch alles daransetzen, die Kurdenpartei HDP aus dem Parlament zu drängen.
Einige AKP-Abgeordnete haben nicht zugestimmt
Vielen Politikern ist nicht wohl bei der Sache. Als das Parlament am Dienstagabend bei der ersten Lesung zur Abstimmung schritt, waren die Mehrheitsverhältnisse eigentlich klar. Die Chefs von drei Parteien mit zusammen fast 500 Abgeordneten hatten sich für die Immunitätsaufhebung ausgesprochen – doch dann gab es bei den geheimen Einzelabstimmungen nur zwischen 348 und 357 Ja-Stimmen.
Laut Presseberichten gingen einige AKP-Abgeordnete von der Fahne, auch bei der rechtsnationalen MHP gab es Abweichler. Die meisten Abgeordneten der links-säkularistischen Oppositionspartei CHP votierten ebenfalls gegen die Vorlage, obwohl Parteichef Kemal Kilicdaroglu dem Plan zugestimmt hatte. Die HDP lehnte den Entwurf als Hauptbetroffene ohnehin ab.
50 Kurden-Vertretern droht Haft
Damit verfehlte die Vorlage die für eine sofortige Verfassungsänderung nötige Zahl von mindestens 367 Stimmen klar. Bleibt die Initiative auch bei der Schlussabstimmung an diesem Freitag unterhalb dieser Marke, wird es voraussichtlich im August eine Volksabstimmung über die Verfassungsänderung geben. Liegen die Ja-Stimmen am Ende unter der Marke von 330, ist der Entwurf gescheitert.
Mit dem Vorstoß will die AKP erreichen, dass 50 HDP-Politiker ins Gefängnis gesteckt werden, gegen die derzeit vor allem wegen Unterstützung der terroristischen Rebellengruppe PKK ermittelt wird. Darunter sind die Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Da die HDP insgesamt nur 59 Abgeordnete in Ankara stellt, wäre dies das politische Aus für die legale politische Vertretung der Kurden in der Türkei.
Erdogan verspricht sich davon eine weitere Stärkung der AKP, die bei Nachwahlen in den frei werdenden Wahlkreisen weitere Mandate hinzugewinnen könnte. Die Erdogan-Partei, die derzeit 316 wahlberechtigte Abgeordnete hat, könnte auf diese Weise ihre Fraktion auf mehr als 330 Vertreter verstärken.
PKK droht mit Krieg im ganzen Land
Damit könnte sie im Alleingang eine weitere Volksabstimmung anberaumen – über Erdogans Lieblingsprojekt einer Einführung eines Präsidialsystems. In einem Brief an mehrere EU-Spitzenpolitiker sprachen die HDP-Chefs Demirtas und Yüksekdag von einem „totalitären Angriff“ auf die türkische Demokratie.
Sollte der AKP-Vorschlag zur Immunitätsaufhebung einem Referendum vorgelegt werden, steht der Türkei ein heftiger Wahlkampf über den Kurdenkonflikt bevor – angesichts ohnehin eskalierender Kämpfe zwischen PKK-Kurdenrebellen und den Sicherheitskräften eine höchst brisante Angelegenheit. Sollten die kurdischen Abgeordneten am Ende ihre Immunität verlieren, droht die PKK bereits mit einem Krieg im ganzen Land.
Bisher töteten kurdische Extremisten mehr als 60 Menschen bei Terroranschlägen. Im Kurdengebiet starben seit dem Sommer fast 700 Zivilisten und nach Armeeangaben tausende PKK-Kämpfer.