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Glückwunsch zum Abschuss. Premier Erdogan bei einer Wahlkundgebung.
© Reuters

Krise in der Türkei: Erdogan will ablenken und sucht sich neue Fronten

Kritiker in der Türkei fürchten ein Eskalation mit Assad. Ministerpräsident Erdogan könnte diese forcieren, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Die Kritik am Twitter-Verbot ebbt nicht ab.

In der Türkei wächst bei Regierungskritikern die Sorge, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine bewaffnete Eskalation im benachbarten Bürgerkriegsland Syrien suchen könnte, um vom Streit um innenpolitische Probleme abzulenken. Die Oppositionspartei CHP warnt, Erdogan könnte versucht sein, eine Woche vor wichtigen Wahlen am kommenden Sonntag ein militärisches Abenteuer in Syrien zu wagen.

Erdogan sagte am Sonntag bei einer Wahlveranstaltung, ein syrischer Jet habe das Hoheitsgebiet der Türkei verletzt. Er beglückwünsche die türkischen Piloten von F-16-Kampfjets, die das syrische Flugzeug abgeschossen hätten. Künftig würde die Antwort der Türkei auf solche Vorfälle noch schwerer ausfallen. Das sei sehr gefährlich, kommentierte der Journalist Fehim Tastekin auf Twitter: „Das ist kein Spiel“, schrieb er. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu hatte den türkischen Generalstab bereits vor Tagen öffentlich vor möglichen Kriegsabenteuern gewarnt.

Dabei geht es vor allem um das Grabmal von Süleyman Schah, dem Großvater des osmanischen Reichsgründers Osman I. Das Grab liegt 25 Kilometer südlich der Türkei auf syrischem Gebiet, wird aber auf Grundlage eines Vertrags von 1921 von türkischen Soldaten bewacht und gilt als türkisches Territorium. Nachdem die Gegend um das Grab vergangene Woche von radikalen Islamisten erobert wurde, kündigte Erdogan Vergeltung für Angriffe auf das Grabmal an.

Erdogan rechtfertigte Twitter-Verbot erneut

Der Premier steht kurz vor der als wichtiger Stimmungstest angesehenen Kommunalwahl wegen Korruptionsvorwürfen und auch wegen seines Twitter-Verbots unter Druck. Der Ministerpräsident ist aber offenbar nicht gewillt, von seiner Line abzurücken. Am Sonntag rechtfertigte er das Twitter-Verbot und drohte zudem mit Schritten gegen Facebook und YouTube. „Die erschüttern ganze Familien bis ins Mark“, sagte er über die Unternehmen. Internationale Kritik interessiere ihn nicht. „Und wenn sich die ganze Welt gegen uns erhebt: Ich treffe Vorkehrungen gegen alle Angriffe auf die nationale Sicherheit meines Landes.“ Damit wächst der Graben zwischen Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül, einem politischen Weggefährten. Gül bekräftigte am Sonntag seine Meinung, ein generelles Verbot von Internetplattformen wie Twitter sei „rechtlich nicht möglich“.

Erdogans Verhalten in Sachen Twitter entspricht einer Linie, die der Ministerpräsident seit den Gezi-Unruhen des vergangenen Jahres und erst recht seit Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung im Dezember verfolgt. Er sieht das Ausland, besonders den Westen als Quelle von Unheil und Verschwörungen. So schimpft Erdogan über eine internationale „Zins-Lobby“, die sein Land angeblich in wirtschaftliche Turbulenzen stürzen will, um daran zu verdienen.

Erneut Debatte in EU über Sinn und Unsinn von Beitrittsverhandlungen

In der EU beginnt eine neue Debatte über Sinn und Unsinn von Beitrittsverhandlungen mit einem Mann wie Erdogan. Die USA kritisieren ihren bisherigen Partner ebenfalls so scharf wie nie zuvor. Der Westen wird sich künftig verstärkt an regierungsunabhängige Organisationen sowie an Gesprächspartner wie Gül halten, während Erdogan die Leviten gelesen werden. Kein westlicher Politiker kann es sich leisten, im Umgang mit Erdogan so zu tun, als sei alles in Ordnung. Der bevorstehende Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck in der Türkei Ende April dürfte ein Beispiel dafür werden.

Manche in der Türkei setzen auf besonnene Köpfe innerhalb der AKP, wie etwa Vizepremier Ali Babacan. Tatsächlich ist eine Palastrevolution von AKP-Politikern gegen Erdogan plausibler als ein Sieg der Opposition an der Wahlurne. Regierungsgegner hoffen auf ein baldiges Ende der Ära Erdogan. So schrieb die Historikerin Ayse Hür auf Twitter: „Die Türkei ist ein Labor für die Frage, ob ein Diktator mit demokratischen Mitteln von der Macht entfernt werden kann.“

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