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Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat Twitter sperren lassen.
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Update

Türkei: Erdogans Twitter-Verbot wird zum Eigentor

Premier Erdogan steht unter Korruptionsverdacht - und lässt in der Türkei den Kurznachrichtendienst Twitter sperren. Doch etliche Nutzer finden Wege, das Verbot zu umgehen. Und selbst Staatspräsident Gül twittert weiter.

Plötzlich wollte es niemand mehr gewesen sein. Am Freitagnachmittag, rund 15 Stunden nach Beginn des Twitter-Verbotes im EU-Bewerberland Türkei, fand sich angesichts weltweiter Proteste gegen den Schritt kein Politiker oder Jurist, der die Verantwortung für den Bann übernahm. Yalcin Akdogan, Chefberater von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, sagte im Fernsehen, es handele sich um eine Entscheidung der Justiz, nicht der Regierung. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft erklärte dagegen, anders als von den Behörden behauptet habe sie kein Twitter-Verbot verlangt. Das landesweite Verbot, ein Zeichen von Panik Erdogans, hatte sich da schon als desaströses Eigentor der Regierung entpuppt.

Der wegen Korruptionsvorwürfen unter Druck geratene Premier will mit dem Verbot weitere peinliche Enthüllungen kurz vor den wichtigen Kommunalwahlen am 30. März verhindern. Doch bereits wenige Stunden nach Inkrafttreten des Verbots in der Nacht zum Freitag hatten viele der zehn Millionen Twitter-Nutzer in der Türkei einen Weg gefunden, um das Verbot zu umgehen. Selbst Staatspräsident Abdullah Gül setzte sich über den Bann hinweg und kritisierte Erdogan ungewöhnlich scharf. Der Präsident erklärte auf Twitter, das Verbot sei inakzeptabel. Er hoffe auf ein baldiges Ende des Verbots.

Unbekannte Regierungskritiker nutzen Twitter seit Wochen, um Links zu immer neuen Aufzeichnungen von abgehörten Telefongesprächen Erdogans zu veröffentlichen. In den – teilweise illegal, teilweise mit Gerichtsbeschluss – abgehörten Telefonaten spricht Erdogan über sein Vermögen, das er vor der Justiz verstecken will, mischt sich in Gerichtsverfahren ein und befiehlt den Chefredakteuren von Zeitungen, unliebsame Journalisten zu feuern.

Erdogan: "Wir werden Twitter mit Stumpf und Stiel ausrotten"

Erdogan bezeichnet die Enthüllungen wie auch die Korruptionsvorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen seine Regierung als Teile eines Komplotts von Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen, doch viele Türken sind anderer Ansicht. Eine Woche vor den Kommunalwahlen sah Erdogan nun aber offenbar keinen anderen Ausweg mehr, um neue Vorwürfe zu unterbinden; in türkischen Medien war in den vergangenen Tagen spekuliert worden, vor dem Wahltag könnten weitere Tonaufzeichnungen oder sogar Videos veröffentlicht werden.

„Wir werden Twitter mit Stumpf und Stiel ausrotten“, hatte Erdogan am Donnerstag bei einer Wahlkampfveranstaltung angekündigt. „Was die internationale Gemeinschaft dazu sagt, interessiert mich nicht.“ Wenige Stunden später sperrte die türkische Internetbehörde den Zugang zu Twitter. Zur Begründung wurde auf „Beschwerden von Bürgern“ über die Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte verwiesen.

Erdogan hatte erst kürzlich mit Verboten von YouTube und Facebook gedroht. Dass Erdogan trotzdem jetzt diesen drastischen Einschnitt vornahm, zeigt das Ausmaß der Befürchtungen der Regierung angesichts der Korruptionsvorwürfe. Einigen Umfragen zufolge hatte die Regierungspartei AKP zuletzt an Unterstützung eingebüßt. In der Türkei selbst und bei der EU hagelte es Kritik am Verhalten der türkischen Regierung. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warf Erdogan vor, er alle Medien bekämpfen, die er nicht kontrollieren könne. Die Türkei sei jetzt ein Land wie China oder der Iran, kommentierte der Nachrichtensender CNN-Türk.

Türken umgehen die Twitter-Sperre

Erdogans Bann war aber schon nach wenigen Stunden nur noch Theorie. Dank Hilfsmitteln wie Proxy Servern gelangten tausende türkische Twitter-Nutzer auf die gesperrte Website. Die Online-Ausgabe der Zeitung „Hürriyet“ meldete, in den ersten zehn Stunden des Verbots sei eine halbe Million Tweets von innerhalb der Türkei registriert worden, das entspricht fast einem Drittel der gesamten türkischen Tweets an einem Tag. Medien wie „Hürriyet“ gaben ihren Lesern Ratschläge, wie das Verbot am besten zu umgehen sei. Auch Twitter selbst gab Tipps: Türkische Nutzer könnten per SMS tweeten, erklärte das Unternehmen.

So hatte Erdogans Verbot die Folge, dass Twitter vollständig zu einer Plattform der Oppositionsparteien und anderer Gegner des Regierungschefs wurde, ohne dass die Regierung die Möglichkeit hatte, ihre Sicht der Dinge unters Twitter-Volk zu bringen. „Wo sind denn all die AKP-Leute?“ fragte der bekannte Pianist und Erdogan-Kritiker Fazil Say mit Blick auf die Regierungspartei des Ministerpräsidenten. „Alle verschwunden.“ Der in London ansässige Türkei-Experte Ziya Meral bezeichnete die massenhafte Verbotsumgehung als „größtes Beispiel für zivilen Ungehorsam in der jüngeren türkischen Geschichte“.

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