Proteste in der Türkei: Erdogan lässt dem "Geist von Gezi" keine Chance
Nur wegen des großen Polizeiaufgebots kam es in Istanbul am Jahrestag der Gezi-Unruhen nicht zu Massenprotesten. Der türkische Polizeichef spricht von einem "schönen Tag".
Es sollte ein Tag des Widerstands gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan werden, eine Warnung der Gegner des Ministerpräsidenten ein Jahr nach Beginn der Gezi-Unruhen. Doch es kam anders. Das massive Polizeiaufgebot am Gezi-Jahrestag am Samstag demonstrierte die Entschlossenheit der Erdogan-Regierung, jeden Widerstand zu brechen – und zeigte gleichzeitig, wie groß die Entmutigung in den Reihen ihrer Gegner ist.
Auffällig viele schwarze Rucksäcke mit der Aufschrift „Westpak“ und drei weißen Streifen, die sehr an einen bekannten Sportartikelhersteller erinnern, sind am Gezi-Jahrestag in der Innenstadt der türkischen Metropole zu sehen. Die Rucksäcke gehören Zivilpolizisten mit Knüppeln, die mit zehntausenden uniformierten Kollegen die geplante Kundgebung der Protestbewegung erdrücken. „Auf jeden Demonstranten kommen zwei Polizisten“, sagt Melih Cetinkus, ein Student, der schon im letzten Jahr bei Gezi dabei war.
Damals eroberten die Demonstranten nach einer brutalen Polizeiaktion gegen Umweltschützer den kleinen Gezi-Park und hielten den Park selbst und den angrenzenden Taksim-Platz rund zwei Wochen lang besetzt. Diesmal kommen sie erst gar nicht zum Park und zum Taksim. Rund 25.000 Polizisten sind im Einsatz, um die Gegend abzuriegeln. Die Beamten gehen dabei zeitweise äußerst rabiat vor. Ein Reporter des US-Senders CNN wird vorübergehend festgenommen, zwei Touristen aus Österreich ebenfalls: Die Besucher hätten versucht, trotz der Polizeiabsperrungen zum Taksim zu kommen, heißt es zur Begründung.
Die Kritik des Europarats wird überhört
Nach einigen Stunden heftiger Auseinandersetzungen in den Straßen um den Taksim und nach mehr als 200 Festnahmen hat das Großaufgebot der Sicherheitskräfte klar die Oberhand. Die Leute mit den schwarzen Rucksäcken und den Knüppeln haben daran einen großen Anteil, denn sie jagen Demonstranten in die Seitenstraßen. Die Mitglieder der Knüppel-Truppen sind nicht als Polizisten ausgewiesen und tragen auch keine Nummern oder Namensschilder – damit werden Beschwerden über Polizei-Brutalität von vornherein unmöglich gemacht.
Die im Vergleich zum letzten Jahr recht wenigen Demonstranten ziehen sich angesichts der Übermacht zurück. In der Nähe des abgeperrten Taksim-Platzes stellen am Abend die ersten Restaurants ihre Tische wieder nach draußen. Der Istanbuler Polizeichef Selami Altinok spricht von einem „schönen Tag“, Kritik des Europarates am Vorgehen der türkischen Polizei wird von den Behörden ignoriert.
Zersplitterte Bewegung
„Sie haben mich dazu gebracht, dass ich mein eigenes Land nicht mehr mag“, sagt Ali, ein 48-jähriger Passant, der auf der Einkaufsstraße Istiklal Caddesi in der Nähe des Taksim-Platzes vom Wasserwerfer- und Tränengaseinsatz der Sicherheitskräfte überrascht wurde. „Die lassen die Leute einfach nicht in Ruhe“, sagt er. „Dies ist ein Polizeistaat“, setzt er mit einem resignierten Kopfschütteln hinzu.
Was ist aus dem „Geist von Gezi“ geworden, jener Verbindung aus Bürgersinn und Widerstandsgeist gegen eine Regierung, die als zunehmend autoritär gesehen wird? Wenn es nach Mehmet Aksoy geht, war dieser Geist von Anfang an zu schwach, um Erdogan ernsthaft in Gefahr zu bringen.
„Der Geist von Gezi kann die Regierung nicht stürzen“, sagt Aksoy, 35 Jahre alt und Kellner in einer Bar in der Nähe des Taksim. „Erdogan hat die Masse der konservativen Wähler hinter sich.“ Zwar hätten sich im vergangenen Jahr viele Menschen an den Gezi-Demonstrationen beteiligt. Aber die Bewegung sei zu zersplittert, um wirklich Druck auf die Regierung machen zu können. „Es gab nie eine Organisation, die alles zusammenhält“, sagt Aksoy
Der Student Cetinkus sieht die Lage nicht ganz so schwarz. In der Nähe des Taksim-Platzes steht er mit einer Gruppe von Demonstranten vor einer Polizeiabsperrung. „Der Geist von Gezi ist nicht tot, er kann nicht sterben“, sagt Cetinkus. Und: „Nächstes Jahr sind wir wieder hier.“