zum Hauptinhalt
Vor einem Jahr eskalierte die Situation im Gezi-Park in Istanbul. Zum Jahrestag werden nun neue Auseinandersetzungen erwartet.
© dpa

Türkei: Jahrestag der Gezi-Proteste: Polizei will Demonstrationen in Istanbul verhindern

In der Türkei begann die Protestwelle um den Gezi-Park vor einem Jahr. Heute wollen Regierungsgegner deshalb demonstrieren. In Istanbul will die Polizei das mit einem Großaufgebot verhindern.

Istanbul rüstet sich für neue gewalttätige Auseinandersetzungen. Regierungsgegner haben aus Anlass des Jahrestages der Gezi-Proteste für diesen Samstag zu Kundgebungen in mehreren Städten aufgerufen. Die Polizei will die Demonstrationen rund um den Istanbuler Park, in dem Ende Mai vergangenen Jahres die Protestwelle gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan begann, mit einem Großaufgebot von 25.000 Beamten verhindern.

Die Organisation „Taksim-Solidarität“, ein Dachverband der Protestbewegung, kündigte an, ihre Anhänger würden sich über das in der Innenstadt verhängte Demonstrationsverbot hinwegsetzen. „Wir werden auf den Straßen sein, mit Millionen von Menschen“, erklärte die Gruppe. Die Behörden wollen 50 Wasserwerfer aufbieten, um Kundgebungen im Gezi-Park und auf dem angrenzenden Taksim-Platz zu unterbinden. Die Grünanlage wurde bereits am Donnerstag vorübergehend für Besucher gesperrt.

Offenbar befürchtet die Polizei, Demonstranten könnten sich erneut in dem kleinen Park festsetzen. Ende Mai 2013 waren Polizisten und Mitarbeiter des Ordnungsamtes mit Gewalt gegen Umweltschützer vorgegangen, die dort gegen Baupläne Erdogans protestierten. Damals wurden unter anderem die Zelte der Aktivisten niedergebrannt. Die unverhältnismäßige Gewaltanwendung löste Solidaritätsaktionen im ganzen Land aus, die in regierungsfeindliche Proteste umschlugen. In wochenlangen Auseinandersetzungen wurden sieben Menschen getötet und Tausende verletzt.

Erdogan sieht sich von Feinden umringt

Die Gerichte haben zwar inzwischen Erdogans Baupläne gestoppt. Doch die Wut der Protestbewegung auf den Premier und die Verachtung der Regierung für die Demonstranten sind geblieben. Erdogan bekräftigte kurz vor dem Jahrestag, die Gezi-Demonstranten hätten eine teilweise auch vom Ausland gewünschte Destabilisierung der Türkei angestrebt. „Aber wir haben uns nicht gebeugt.“ Kurz vor der Präsidentschaftswahl im August sieht sich die Regierung zunehmend von inneren und äußeren Feinden umringt. Einige Gefolgsleute des Ministerpräsidenten zählen selbst das Verfassungsgericht dazu. Dessen Richter ordneten am Donnerstag die Aufhebung der Zugangssperre für das Videoportal Youtube an. Die Sperre sei eine nicht hinnehmbare Einschränkung der Freiheitsrechte, urteilte das Gericht. Bis Freitagnachmittag war Youtube aber noch nicht zu erreichen. Erdogan hatte den Internetdienst Ende März sperren lassen, um die Verbreitung von Berichten über Korruption in den Reihen seiner Regierung zu verhindern. Schon im April ärgerten die Verfassungsrichter die Regierung mit der Freigabe des Kurznachrichtendienstes Twitter.

Burhan Kuzu, ein führender Politiker der Erdogan-Partei AKP und Vorsitzender des Verfassungsausschusses im türkischen Parlament, warf dem Verfassungsgericht wegen der Youtube-Entscheidung „Populismus“ vor. Das Gericht habe „wieder ein falsches Urteil“ gefällt. Der AKP-Vizevorsitzende Abdulhamit Gül warf dem Gericht vor, seine Kompetenzen überschritten zu haben.

Verfassungsgericht beruft sich auf europäische Werte

Kritik vonseiten der Regierung sind das Verfassungsgericht und sein Präsident Hasim Kilic inzwischen gewohnt. Mit mehreren Urteilen in jüngster Zeit hat sich das Gericht zu einer der wenigen Institutionen in der Türkei entwickelt, die sich dem Machtstreben der Regierung Erdogan entgegenstellen. Das Gericht beruft sich dabei auf übergeordnete europäische Werte. Als Mitglied des Europarates seien die Vorgaben des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes für die Türkei und ihr oberstes Gericht bindend, argumentiert Kilic – wobei ihm bewusst ist, wie sehr er Erdogan damit ärgert. Es gehöre zum Kern des Rechtsstaates, „der Willkür der Regierung Grenzen zu setzen“, sagte er in einer Rede im Beisein des Ministerpräsidenten.

Dabei gilt der 64-jährige Kilic, dessen Ehefrau das Kopftuch trägt, als Konservativer, der politisch nicht allzu weit von Erdogans AKP entfernt ist. Vorerst muss Erdogan mit Kilic zurechtkommen, denn feuern kann der Premier die Verfassungsrichter nicht. Erst nächstes Jahr wird Erdogan den unbequemen Richter los: Dann geht Kilic in Pension.

Susanne Güsten

Zur Startseite