Verfassungsreferendum in der Türkei: Erdogan kann sich seiner Stammwähler nicht sicher sein
Zwei Wochen vor dem türkischen Referendum über mehr Macht für den Präsidenten herrscht auch bei vielen Getreuen der regierenden AKP Skepsis. Recep Tayyip Erdogan muss deshalb um seinen Sieg zittern.
Ein Lautsprecherwagen zwängt sich durch die engen Gassen des Istanbuler Stadtteils Kasimpasa. Aus den Boxen dröhnt die Wahl-Hymne der Regierungspartei AKP, in der Präsident Recep Tayyip Erdogan als Retter des Landes gefeiert wird. Ein paar Dutzend AKP-Anhänger folgen dem Wagen zu einer Kundgebung in der Nähe und schwenken rote und weiße Fahnen mit dem „Ja“ für das Verfassungsreferendum am 16. April. Vor ein paar Jahren wäre Ozan noch mit dabei gewesen.
Aber heute sitzt der 40-Jährige auf einem Plastikstuhl am Straßenrand, schaut der AKP-Prozession zu und denkt nicht daran, sich auch eine Fahne zu schnappen. Ozan ist Mitglied der AKP und hat jahrelang bei jeder Wahl für Erdogan gestimmt. Aber am 16. April wird er „Nein“ sagen.
Wie Erdogan, der in Kasimpasa aufwuchs, ist Ozan ein frommer Muslim und ein stolzer Patriot. Er bewundert die AKP für ihre Leistungen bei der Modernisierung des Landes in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten, für all die neuen Autobahnen, Flughäfen, Brücken und Tunnel. Doch seit ein paar Jahren ist die Partei, die er kannte und mochte, eine andere geworden. „Du darfst die Regierung nicht kritisieren, sonst landest du im Knast“, ist eines seiner Beispiele.
Ozan sieht mangelnden Respekt der AKP beim Umgang mit dem Erbe von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Er sieht Korruption, die vertuscht wird. Und er sieht die Arroganz einer Regierung, die auf das einfache Volk herabschaut. Als Kellner in einem Café verdient Ozan gerade einmal genug, um seine Familie zu ernähren. Er fühlt sich von Erdogan und der AKP nicht mehr vertreten und will aus der Partei austreten. „Es gibt viele, die so denken wie ich.“
Umfragen schüren die Unsicherheit
Zwei Wochen vor der Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen, mit denen sich Erdogan weitreichende Vollmachten als Staatsoberhaupt sichern will, werden Leute wie Ozan zu einem Problem für den Präsidenten und die AKP. Die Regierungspartei hat die staatlichen Institutionen und die meisten Medien auf ihrer Seite, kann laut den Umfragen aber trotzdem nicht sicher sein, am 16. April mehr als 50 Prozent zu bekommen.
Das liegt vor allem daran, dass AKP-Stammwähler, fromme Kurden und Nationalisten mit ihrer Zustimmung zögern. Ob diese Unzufriedenheit reicht, um Erdogans Plan scheitern zu lassen, ist eine Frage, die überall in Istanbul diskutiert wird. „Ich glaube, am Ende wird ein ‚Ja‘ rauskommen“, sagt der Frisör Ali. „Die schweigende Mehrheit der Türken ist vorwiegend konservativ, und diese Leute werden für Erdogan stimmen.“ Musa, ein Taxifahrer in der Bosporus-Metropole, will mit „Ja“ stimmen, aber nicht, weil er so begeistert ist vom Präsidialsystem, sondern weil er die Folgen eines „Neins“ fürchtet: „Dann wird die Regierung bestimmt für Chaos sorgen, um doch noch zu kriegen, was sie will.“
Wird der 16. April ein Wendepunkt?
Erdogan-Kritiker erwähnen häufig das Jahr 2015, als die AKP zuerst eine Wahl und die Parlamentsmehrheit verlor, wenige Monate später aber eine von Erdogan angesetzte Neuwahl inmitten des erneut eskalierenden Kurdenkonflikts gewann.
Aydin Engin, ein altgedienter Journalist der Zeitung „Cumhuriyet“, befürchtet, dass ein Erfolg für Erdogan am 16. April ein historischer Wendepunkt für das Land werden könnte. Seit dem Beginn einer Reformperiode im Osmanenreich im frühen 19. Jahrhundert sei die Türkei nach Westen ausgerichtet. „Jetzt könnte es unter Erdogan eine Wende um 180 Grad in Richtung asiatischen Despotismus geben.“ Einige AKP-Politiker aus der zweiten Reihe träumten schon von einer „Anatolischen Islamischen Republik“ als Ersatz für den von Atatürk geschaffenen Staat, sagt Aydin.
Das sehen Umut und seine Freunde ganz anders. Die jungen Anwälte sitzen in einem Informationszelt, das sie auf der Istanbuler Einkaufsmeile Istiklal Caddesi aufgebaut haben, und erklären interessierten Passanten die Vorzüge des Präsidialsystems. Nach ihrer Meinung wird mit einem „Ja“ die Demokratie nicht geschwächt, sondern gestärkt. Staatliche Entscheidungsmechanismen würden beschleunigt und vereinfacht. Den Einwand der Opposition, Erdogan wolle sich mit den Verfassungsänderungen ein Ein-Mann-System maßschneidern lassen, will Umut so nicht stehen lassen. „Hier werden die Ängste der Menschen instrumentalisiert.“
In Kasimpasa spricht der Ex-AKP-Wähler Ozan aus, was viele denken. Die Regierung gehe mittlerweile so weit, dass sie sage: „Entweder stehst du auf unserer Seite, oder du bist der Feind.“ Auch deshalb will er mit „Nein“ stimmen.
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