Türkische Spionage: Die Unsicherheit der deutschen Behörden über Fethullah Gülen
Die Türkei will Deutschland mit allen Mitteln von der Gefährlichkeit der Gülen-"Bewegung" überzeugen. Das verlangt nach einer Haltung. Ein Kommentar.
Großen Rätseln ist es oft zu eigen, entweder keine oder eine vergleichsweise einfache Lösung zu haben. Das könnte auch für die umstrittene Liste gelten, die der türkische Inlands-Geheimdienstchef Hakan Fidan dem deutschen Auslands-Geheimdienstchef Bruno Kahl übergab. Darauf stehen die Namen von Personen und Institutionen, denen die Türkei eine Nähe zu der von ihr als terroristisch eingestuften „Bewegung“ von Fethullah Gülen zuschreibt. Unter anderem auch der von Michelle Müntefering, Bundestagsabgeordnete der SPD und Ehefrau von Alt-Vizekanzler Franz Müntefering. So bahnt sich ein neuer Geheimdienstskandal an: Türken-Spitzel spionieren deutsche Politiker aus.
Die Listenübergabe empört die Öffentlichkeit und befremdet Politiker. War das Absicht oder sind die einfach doof? Kahl gab die Liste, ganz deutscher Beamter, an das sachlich zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz weiter, den deutschen Inlands-Geheimdienst. Von dort ging sie an die Polizei, die ihrerseits Betroffene vor möglichen Bespitzelungen warnte. Jetzt ermittelt sogar der Generalbundesanwalt. Gülen-Verfolger Fidan hat dem türkischen Staatsschutz einen Bärendienst erwiesen.
Vielleicht ein Irrtum, vielleicht Kalkül oder Provokation. Aber möglicherweise auch nur dies: Routine. Seit Gülen in der Türkei als Staatsfeind gilt, wurden der Bundesregierung regelmäßig Dokumente zur Bewegung übermittelt, ausweislich der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktionen vor einem Jahr gerade auch zu „Aktivitäten und Anhängern in Deutschland“. Das war noch vor dem Putsch. Aber dass Erdogan die Gülen-Anhänger als Wurzel allen Übels sah und ihnen mit seinen Spionen nachstellen ließ, war schon damals klar.
Warum wurde keine Anzeige gegen den türkischen Geheimdienst erstattet?
Geändert hat sich also weniger die türkische Haltung als der deutsche Umgang damit. Aber vielleicht auch weniger, als man annehmen möchte. Denn wenn es wirklich strafbar sein soll, was der türkische Geheimdienst da macht, warum hat ihn Verfassungsschutzpräsident und Spionage-Abwehrchef Hans-Georg Maaßen nicht beim Generalbundesanwalt angezeigt? Maaßen weiß, wie man Anzeige erstattet, er hat es in der Landesverratsaffäre um den Blog „netzpolitik.org“ bewiesen. Auch der Chef des Bundesnachrichtendiensts Kahl hätte das erledigen können. Haben sie? Wie stets in der Geheimdienstwelt gibt es dazu keine Auskunft, doch es ist unwahrscheinlich, da erst seit Kurzem ermittelt wird. Kahl hatte die Liste schon Mitte Februar bekommen.
Eine Lösung des Rätsels könnte diese sein: Die Türken tun, was sie schon lange versuchen, nämlich die Bundesregierung davon zu überzeugen, dass die Gülen-Bewegung eine Gefahr darstellt. Und die deutsche Seite ist unsicher, wie sie dazu stehen soll. Ein Skandal wäre das noch nicht. Aber Erklärungsbedarf besteht.
Jost Müller-Neuhof